Der fröhliche Reigen dieser fünf Figuren widerspricht ihrem Erscheinungsbild: fünf Skelette, die mit einer Flöte musizieren und zu dritt schwofen. Michael Wolgemuts Holzschnitt „Tanz der Gerippe“ aus dem Jahr 1439 trug maßgeblich zur Überlieferung des Totentanzes bei. Die auch als „Makabertanz“ bekannte Darstellung der Macht des Todes über das Leben geht bis ins Mittelalter zurück. Michiel Vandeveldes Produktion „Dances of Death“ beweist, dass diese Darstellungsform auch für die Gegenwart ihre Gültigkeit besitzt: Im PACT Zollverein lässt der belgische Choreograf eine Bühnengemeinschaft die existenziellen Fragen über Leben und Tod durchexerzieren. Und da bereits feudale und barocke Künstler kanonische Darbietungen über Endlichkeit und Exitus anfertigten, eröffnen Vandeveldes Performances zugleich eine Zeitreise in die Geschichte des Totentanzes.
Den Reigen entfachen sieben Performer – eine Anzahl, die sicherlich mit der üppigen Semantik der Nummer im Christentum (von der Schöpfungsgeschichte bis zu den Lastern sowie Tugenden) korrespondiert, das bekanntlich noch immer ein auflagenstarkes Abonnement auf viele Sinnfragen rund um das Ableben hat.
Es ist nicht das erste Mal, dass Vandevelde die Gespenster der Vergangenheit auf die Bühne bringt. Wobei es zuletzt notgedrungen ein Stream war, über den der Choreograf – ebenfalls im Auftrag von PACT Zollverein – im letzten Mai seine „Ghosts of the Past“ präsentierte. Damals herrschte noch ein Kulturlockdown und Vandevelde setzte die verwaiste Bühne der Essener Tanzinstitution in Szene: den Spuk der räumlichen Leere.
Dass das düstere bis moribunde Sujet von „Dances of Death“ über ein mediävistisch interessiertes Nischenpublikum hinausgeht, beweist die bereits seit zwei Jahren bestehende pandemische Gemengelage: Das Sterben prägt den alltäglichen Horizont. Doch so allgegenwärtig der Tod erscheint, so abgeschottet sind wiederum die Sterbenden: Eine hygienische wie institutionelle Isolation hat das häusliche Sterbebett, an dem die Hinterbliebenen Abschied nehmen konnten, bekanntlich abgelöst. Umso passender erscheint Vandeveldes Revival des Totentanzes, für das er das tänzerische Bewegungsrepertoire seiner verstorbenen Mutter aufgreift, dokumentiert als 16mm-Aufnahmen.
Michiel Vandevelde: Dances of Death | 11.3., 12.3. 20 Uhr | PACT Zollverein, Essen | 0201 289 47 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Interview 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24