choices: Herr Gesthuisen, derzeit ist viel von Heimat und Tradition die Rede, wenn es um die Verortung in der globalisierten Welt geht. Was, wenn in der Heimat auch Fremde leben?
Birger Gesthuisen: Ein Gegensatz, der keiner ist. Begriffe, die sehr stark konservativ besetzt sind, verbinden wir zu schnell mit Stillstand. Tradition war immer in Bewegung, ebenso wie Kultur nie hermetisch war. Nehmen wir die Musik der spanischen Juden. Sie und ihre Lieder wurden 1492 aus Spanien vertrieben und über den ganzen Mittelmeerraum verstreut. Wenn man die heutigen Versionen in Bosnien-Herzegowina, Istanbul oder Marokko hört, klingt dieselbe Melodie ganz unterschiedlich. Die Lieder sind bewahrt worden, zugleich schimmert die jeweilige kulturelle Umgebung sehr deutlich durch. Heute hat sich durch die Fliegerei und das Internet natürlich die Geschwindigkeit der Veränderungen erhöht.
Der Begriff Heimat passt zu einem multikulturellen Einwanderungsland?
Ein Türke, der hier seit 20 bis 30 Jahren lebt, ist hier heimisch, aber anders heimisch als ein Deutscher. Meine Lieblingsstadt ist beispielsweise Istanbul, da fühle ich mich im wahrsten Sinne des Wortes zu Hause. Als ich vor kurzem zurückflog, saßen auch junge Türken im Flieger, denen Istanbul zu laut und zu dreckig war. Die wollten da nie mehr hin. Die haben eben in Deutschland ihre Wurzeln geschlagen.
Wie steht es denn mit der türkischen Brauchtumspflege hier?
Unterschiedlich. Wenn sich hier beispielsweise eine Tanzgruppe zusammen tut, werden meist türkische Jugendliche aus unterschiedlichen Herkunftsregionen zusammenkommen und so etwas wie die Vielfalt der Türkei repräsentieren. Das ist die ganz spezielle Logik der Diaspora.
Was meint das?
Es gibt verschiedene Formen, heimisch zu werden. Eine Variante versucht das, was man an Kultur mitgebracht hat, zwanghaft zu konservieren. Das kann dazu führen, dass Dinge bewahrt werden, die in der Türkei längst hinfällig sind. Das gilt auch für andere Nationen. Gucken Sie sich einmal das deutsche Brauchtum in den USA an. Wenn die dort Oktoberfest feiern, lacht sich der Münchener schlapp.
Wie war das denn, als die sogenannten türkischen Gastarbeiter in den 1960ern hierher kamen?
Die erste Migrantengeneration kam bekanntlich aus dem ländlichen Milieu Anatoliens – mit wenig Bildung und handwerklichen Fähigkeiten und keiner Erfahrung mit Industriearbeit. Man muss wissen, dass Anatolien traditionell ein Auswanderungsland ist, und dass Abschiednehmen und Weggehen klassische Themen der „Asiks“ waren, der wandernden Barden Anatoliens. Zudem gab es damals auch in der Türkei schwere politische Auseinandersetzungen – was sich in einer Protestliedkultur ausdrückte. Das alles fand sich in der türkischen Binnenkultur hier wieder. Liedermacher beschäftigten sich mit der Wirklichkeit der Türken in Deutschland, zugleich wurden anatolische Traditionen und Lieder installiert.
Lieder über die ferne Heimat gibt es in jeder Kultur.
Sie sind häufig besonders populär. Daneben steht der Dialog mit der neuen Umgebung. Offiziell bleiben viele Dinge ungesagt, weil man nicht unfreundlich sein möchte. Aber intern treibt einen manches um. Es gab in Köln beispielsweise einen Liedermacher, Metin Türköz, der zunächst bei Ford am Band arbeitete und dann mit seiner Musik so erfolgreich war, dass er seinen Fabrikjob aufgeben konnte. Er hat insgesamt 13 Langspielplatten und 72 Singles herausgebracht.
Worüber hat er gesungen?
Diese Lieder sind inzwischen 40Jahre alt und dokumentieren den Kulturschock, der eintritt, wenn eine konservative, religiöse und sehr ländliche Bevölkerung auf einmal in einer Fabrik wie Ford und in einer riesigen Stadt wie Köln landet. Die Lieder von Türköz drücken eine völlige Verwunderung darüber aus, was hier passiert. Zum Karneval hat er beispielsweise gesungen: „Der Skandal des Karnevals/Auf der Straße: Nackte Frauen!/Sie umarmen die Männer./Sie verführen alle./Hast Du das gesehen?“
Das muss zu Weiberfastnacht gewesen sein.
Türköz hat auch gesungen „Das Schicksal hat uns in die Fremde verschlagen./Das bittere Los hat sich an unserer Türe niedergelassen.“ Oder ein Kampflied zum berühmten wilden Streik 1973 verfasst: „Na, bitte schön, Meistero/Für wenig Geld arbeite ich nicht.“
Welche Funktion hat Musik in der türkischen Community überhaupt?
Wir müssen die Frage anders formulieren. Es geht um Musik in der Diaspora. Ich habe Menschen aus 25 Kulturen interviewt. Ein einfaches und ganz banales, aber wichtiges Ergebnis: Viele wären gar nicht auf die Idee gekommen, Musik zu machen oder zu tanzen, wenn sie nicht in der Diaspora geboren oder irgendwie hineingeraten wären. Das heißt, in der Fremde, fernab von der Herkunftsregion der Eltern oder Großeltern nimmt man Heimat als Verlust besonders scharf wahr. Musik aus dieser Region vermittelt dann Trost. Es geht gar nicht um einen Angriff auf die deutsche Gesellschaft, sondern um gelebte Bikulturalität. Wenn ich mich den ganzen Tag in dem weitgehend deutschen Raum von Büro oder Fabrik bewege, soll es auch einen Ort geben, wo ich mein „Türkischsein“ zum Ausdruck bringen möchte. Das ist ganz legitim, wir müssen diese Bikulturalität als Normalfall betrachten.
Und der Karneval als Ausdruck originärer kölscher Identität?
Ich kenne genug Kölner, die ihren Flug immer zu Karneval buchen. Auch für Rheinländer ist dieses Fest nur bedingt verbindlich, egal wie wichtig und toll der Karneval für andere sein mag.
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