Am Ende herrscht grausiges Schweigen, wenn der Kannibale von Rotenburg in völliger Dunkelheit mit seinem Opfer diskutiert. Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung ließ den Schluss von Elfriede Jelineks „Rechnitz (Ein Würgeengel)“ unangetastet und sorgte so in Düsseldorf für einen Skandal. Beim Gastspiel in Wuppertal zeigte sich, wie intelligent die Regie diesen Botenbericht vom Massaker einer Schlossgesellschaft an jüdischen Zwangsarbeitern steigert. Jelineks Betonung der rauschhaften Seite des Holocaust wird mit einer beißenden Exegese der NS-Rezeption konfrontiert, vom diarrhoehaften Geschichts-Small Talk, über NS-Aufarbeitungsliteratur, Feldforschung nach Leichen bis zum NS-Porno ist alles dabei. Dafür gab’s zu Recht den Publikumspreis des Theatertreffen NRW in Wuppertal.
Das Festival mit dem merkwürdigen Untertitel „Westwärts“ ist eine Best of-Show mit unscharfer Kontur. Eine Jury hat zehn „bemerkenswerte und künstlerisch herausragende Inszenierungen“ der insgesamt 19 NRW-Bühnen ausgewählt. Viele wollten dabei sein, nicht jeder durfte. An Herbert Fritsch kommt derzeit allerdings niemand vorbei. Wie schon beim Berliner Theatertreffen sorgte seine Oberhausener „Nora“-Inszenierung auch an der Wupper für Begeisterung. Ibsens angestaubter Emanzipationsklassiker wird zur gnadenlos stilisierten Beziehungsgroteske zwischen Filmtrash, Courteline und Slapstick. Fritsch treibt den Personen die Psychoflausen aus und macht aus ihnen Pathosmonster mit aufgerissenen Augen und schreckgeweiteten Mündern.
Dem Oberhausener Theater geht es schlecht, dem Wuppertaler auch und deswegen wurde auch eifrig diskutiert und ein Thesenpapier mit halbgaren Thesen vom Theater als Thinktank, als Bildungsstätte, als Ort der Identifikation und Vielfalt der Produktionsformen veröffentlicht. Lob erhielt die Landesregierung, die im Rahmen eines Theaterpakts ab 2012 den notleidenden NRW-Theatern und -Orchestern weitere Zuschüsse von 4,5 Mio. Euro, der freien Szene 1,5 Mio. zusagt. Das ist auch dringend nötig, wie gerade der Fall Bonn zeigt. Dort haben Kultur- und Finanzausschuss Sparmaßnahmen von 3,5 Mio. Euro pro Jahr ab 2013, manche sagen sogar 7 Mio. Euro beschlossen. Der derzeitige Etat von 27 Mio. Euro würde damit um fast 13 Prozent zusammengestrichen. In ähnlicher Größenordnung schrumpft auch die Freie Szene. Generalintendant Klaus Weise hat daraufhin auf eine Vertragsverlängerung über 2013 hinaus verzichtet. Da nutzte es auch nichts, dass das Theater Bonn für seine „Kaspar“- Interpretation in Wuppertal mit dem Preis für die beste Inszenierung ausgezeichnet wurde. Alexander Riemenschneider richtet Handkes Sprachdressurstück auf Unterhaltungs- und Motivationsformate aus. Die Schauspieler inszenieren eine Animationsshow mit dem Publikum und setzten die Titelfigur einem Discount-Motivationspush aus, der am Ende in einen neoliberalen Identitäts-Habitus mündet. Das ist mitreißend inszeniert, doch es bleibt ein bitterer Sieg.
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