Mittwoch, 11. Januar: „Ich habe bemerkt, dass Film Freiheitsentwürfe darstellen kann, auch abseitige.“ Regisseur Nicolas Humbert sitzt in der ausverkauften Filmpalette und erzählt dem Publikum, was ihn auf die Idee für „Wild Plants“ gebracht hat. Während der Planet immer mehr unter Zerstörung zu leiden habe und ein trauriges Bild abgebe, wollte er dem eine Hoffnung entgegensetzen. Durch Beobachtungen von vielen alternativen Projekten, die alle mit der Natur zu tun hatten, findet er eine „Songline“: „Kann die Pflanze ein Träger sein für gesellschaftliche Veränderungen?“
Die titelgebenden „Wild Plants“ beschreiben nicht nur die Pflanzen, die selbst an urbanen Unorten ihre Wurzeln schlagen. Sie stehen symbolisch auch für die Menschen, die einen neuen Umgang mit der Natur für sich entdeckt haben und in diesem Film im Mittelpunkt stehen. Da sind urban gärtnernde junge Menschen in der verfallenen Industriestadt Detroit; da ist ein Indianer, der die Rituale seiner Vorfahren am Leben hält; eine Kommune, die kollektive Landwirtschaft betreibt, und ein aufsässiger (Lebens-)Künstler, der seit Jahren heimlich die Stadt Zürich bepflanzt. Diese Akteure stehen zwar im Mittelpunkt, werden aber nicht klassisch vorgestellt: Man weiß weder die Namen noch ihre Funktion, wie eine Zuschauerin anmerkt. Sie schauen nur in die Kamera, lange und unbewegt. Nicolas Humbert kennt diese Diskussion, die er mit Fernsehredakteuren hat. Er sei aber „gegen Überinformation. Ich öffne einen Raum für euch.“
Die offene Erzählform ist ein besonderes Merkmal des Films. Auch wenn der als Dokumentarfilm firmiert, will er nicht ausschließlich informieren oder überzeugen. Das wird besonders deutlich, wenn man ihn mit einem Film wie „Tomorrow“ vergleicht, in dem Menschen mit zukunftsfähigen Lebensentwürfen besucht werden, und der dabei sogar ganz ähnliche Projekte beschreibt. Doch „Wild Plants“ funktioniert eben nicht nur auf einer Ebene. „Das war eine der großen Herausforderungen meiner Arbeit: die unterschiedlichen Ebenen, das Politische, Spirituelle, Poetische in eine Balance zu bringen. Dafür war ein Jahr im Schnitt notwendig.“
Die lange Produktionszeit sei auch Voraussetzung dafür, dass viele zufällige Aufnahmen und glückliche Fügungen im Film zu sehen sind, von denen Humbert an diesem Abend erzählt. Als „Herzstück des Films" bezeichnet er eine zentrale Szene. Eine Protagonistin antwortet sehr persönlich auf die Frage, was diese Art zu leben ihr bringe. Sie komme besser mit dem Tod klar, wenn sie ständig den Kreislauf der Natur vor Augen habe. In einem langen Moment der Stille, und bevor sie dann ihre eigene Geschichte erzählt, betritt plötzlich im Hintergrund eine Katze das Bild. Sie setzt sich und bleibt dort ganz nah an der Protagonistin. „Ein Geschenk“, erzählt Humbert. Ganz begeistert ist er, wenn er von solchen Glücksfällen erzählt.
Dabei war der Film auch harte Überzeugungsarbeit, die ihn an den Rand der Aufgabe gebracht hat. Gleich die erste Frage aus dem Kölner Publikum zielt auf die Produktionsbedingungen: Wie bringt man so einen Film denn den Fördergremien bei? Zweimal wurde der Film abgelehnt, drei Drehbücher habe Humbert schreiben müssen. „Für den Papierkorb“, wie er sagt, weil er wusste, dass sie keine Rolle spielen würden. Er schreibe seine Drehbücher „nach der Montage“. Als Ergebnis sind die Schwierigkeiten natürlich auf die Abnahme des Films verschoben: Eine vier- und eine dreistündige Fassung seien klar abgelehnt worden.
Die sechs Jahre Entstehungszeit liegen auch in Humberts Arbeitshaltung begründet: „Ich bin langsam.“ Er möchte die Menschen erst kennenlernen, „mit ihnen leben“, bevor er sie filmt. Der Filmemacher lässt sich Zeit, das merkt man dem Ergebnis an. Und das passt auch zum Thema des Films, geht es doch auch um Entschleunigung.
Die Frage, ob Pflanzen die ganze Gesellschaft verändern können, wird an diesem Abend zwar nicht mehr abschließend geklärt. Wenn dem so ist, dann könnte davon allerdings bald auch in Köln etwas zu sehen sein. An alle Interessierten verschenkte Humbert in kleinen Tütchen die Saatgutmischung mit „Pionierpflanzen“ des Schweizers Maurice Maggi. Der wird im Film gezeigt, weil er schon seit Jahren durch hartnäckige nächtliche Pflanzarbeit das Straßenbild Zürichs verändert. Heute gelte er als Institution, so Nicolas Humbert. Sogar die Stadtentwickler Zürichs würden ihn nun um Rat fragen, um neue urbane Konzepte zu entwickeln. Pionierpflanzen tragen ihren Namen, weil sie sich an vorher kahlen Stellen ansiedeln können und dort den Boden für weitere Pflanzen aufbereiten.
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