Köln, 6. August: Der verhängnisvolle Luftangriff der Bundeswehr auf zwei Tanklastzüge im Jahr 2009, bei der Schätzungen zufolge 90 bis 140 Menschen starben, fand während der Dreharbeiten von Gerners Film statt. Der Angriff kommt im Film aber nur am Rande vor, Gerner ging es vielmehr darum, „die Vitalität junger Afghanen zu porträtieren“, wie er in der St. Michaels-Kirche erläuterte, in der der Film am 6.8. im Rahmen der „Art und Amen“-Reihe aufgeführt wurde.
So folgt sein 2011 erschienener Film fünf jungen Afghanen in der Hauptstadt der Provinz Kunduz in ihrem Alltag zwischen Tradition und Modernisierung. Die Geschichte des 10-jährigen Mirwais passt noch am ehesten ins Raster des westlichen Zuschauers: Da der Vater die Familie nicht allein ernähren kann, muss Mirwais als Schuhputzer etwas hinzuverdienen, bevor er am Nachmittag seine Schulaufgaben machen kann. Seine Körpersprache und sein ernster Blick haben nur noch wenig Kindliches an sich. Dennoch träumt Mirwais davon, einmal zu studieren um Anwalt oder Ingenieur werden zu können. Die Radiomoderatorin Nazanin überrascht den Zuschauer schon mehr: Zwar wirft sie sich auf der Straße schnell die Burka über, in ihrem Studio aber setzt sie sich hinter dem Mikrofon als engagierte Lokalreporterin für Frauenthemen ein. Auch Hasib scheint westlich geprägt zu sein, denn er glaubt fest an freie Wahlen, für die er sich als Helfer einer Organisation einsetzt, die die Wahlen überwacht. Vor allem bei der Kontrolle abgelegener Wahllokale begibt er sich dabei immer wieder in Lebensgefahr. Ghulam und Khatera schließlich fallen mit ihrer künstlerischen Veranlagung am weitesten aus den ihnen von der Tradition zugedachten Rollen. Mit geringsten Mitteln aber viel Leidenschaft versuchen die beiden, ihren ersten gemeinsamen Spielfilm fertig zu stellen.
Martin Gerner hat lange Zeit als Redakteur und Reporter des Deutschlandfunks gearbeitet, bevor er 2001 als Entwicklungshelfer nach Afghanistan ging, um dort die Bevölkerung im Umgang mit Medien auszubilden. Er spricht die Verkehrssprache Dari und genießt daher hohes Vertrauen bei seinen Gesprächspartnern, die ihm ungewöhnlich intime Einblicke in ihren Alltag gewähren. Sein Film solle der einseitigen Darstellung Afghanistans in den deutschen Medien entgegenwirken und den Menschen dabei ihre Würde wieder geben, erläuterte Gerner nach der Vorführung. Viele Klischees über das Land träfen nicht die Wirklichkeit: So sei die Presse in Afghanistan freier als in jedem seiner Nachbarländer und die junge Generation wachse ebenso mit Internet, Smartphone und Blogs auf, wie ihre westlichen Altersgenossen. Dennoch verschweigt er nicht die Widerstände, auf die seine Protagonisten durch den Kriegszustand und die gesellschaftlichen Konventionen stoßen. So seien mehrere der im Film Porträtierten mittlerweile in die Landeshauptstadt Kabul gewechselt, auch weil die Sicherheitslage in Kunduz inzwischen deutlich kritischer ist, als zur Zeit der Dreharbeiten. „Gehen oder Bleiben – diese Frage ist ein großes Thema unter jungen Afghanen“, so Gerner.
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