Mittwoch, 12. Juni: Nach sechs Tagen, an denen insgesamt zehn verschiedene Programme mit aktuellen Filmen aus Lateinamerika zur Aufführung kamen, endete mit der Projektion des Films „Das Land der verlorenen Kinder“ von Juan Camilo Cruz und Marc Wiese am Mittwochabend das 17. Kino Latino Köln-Filmfestival. Dirk Steinkühler und Sonja Hofmann, die gemeinsam mit Joachim Kühn die Filmauswahl des Festivals kuratierten, blickten glücklich zurück auf fast durchgehend sehr gut besuchte Vorstellungen. Auch der Dokumentarfilm über die schwierige gesellschaftliche Lage im „failed state“ Venezuela lockte zahlreiche Interessierte ins Filmhaus, so dass der Kinosaal zum Abschluss des Festivals wieder annähernd ausverkauft war. „Das Land der verlorenen Kinder“ hatte zuvor seine Deutschlandpremiere auf dem DOK.fest München 2024 gefeiert und war ansonsten, wie Steinkühler bei der Begrüßung erwähnte, noch kaum im Kino gezeigt worden. Das wird sich dann allerdings im kommenden Monat ändern, wenn der Kölner Filmverleih Real Fiction den Film ab 4. Juli bundesweit auch regulär ins Kino bringt – leider noch immer eine Seltenheit für Filme aus und über Lateinamerika. Co-Regisseur Marc Wiese, der eigentlich nach der Filmvorführung für ein Q’n’A zur Verfügung stehen sollte, musste den Termin leider kurzfristig absagen, da er just am Mittwochabend zu neuen Dreharbeiten in die USA aufbrach. In Milsy Liebezeit, der ersten Vorsitzenden des in Köln eingetragenen Vereins „Einheit für Venezuela e.V.“, hatten die Veranstalter aber eine würdige Vertretung gefunden, da die gebürtige Venezolanerin die Situation vor Ort und die der Geflüchteten hier in Deutschland nur allzu gut kennt und die Fragen des Publikums eingehend beantworten konnte.
Armut und Unterernährung
Schon in ihrer kurzen Einführung erläuterte Moderatorin Sonja Hofmann, dass sich Venezuela derzeit in einer überaus schwierigen Situation befindet, da das Gesundheitssystem des Landes total zusammengebrochen ist und die Menschen von einer schweren Hungersnot betroffen sind. Mehr als sieben Millionen Venezolaner sind deswegen in den letzten Jahren emigriert und haben dabei rund eine Million Kinder im Land zurückgelassen. Diese wachsen in sehr prekären Verhältnissen auf und werden häufig in die Kriminalität gezwungen, um überhaupt überleben zu können. Etliche Proteste der Menschen in Venezuela prangerten wiederholt die schwierige Lage vor Ort an, die sich dennoch immer weiter verschlechterte. Milsy Liebezeit berichtete beim Filmgespräch im Anschluss an die Projektion, dass sie „Einheit für Venezuela“ im Jahr 2020 gegründet habe, um insbesondere diejenigen ihrer Landsleute zu unterstützen, die auf ihrer Flucht schließlich in Deutschland landen. In insgesamt 19 weiteren Ländern gibt es vergleichbare Organisationen. Die in „Das Land der verlorenen Kinder“ geschilderte Situation sei „ein sehr spezieller Ausschnitt aus der Realität des Landes“, erläuterte Liebezeit, die insbesondere auf das Innere Venezuelas zutreffe. In der Hauptstadt Caracas sei zumindest eine Grundversorgung noch sichergestellt. Für das Barrio Santa Rosa in der Stadt Maracaibo sieht die Situation gänzlich anders aus. Hier herrscht Armut und Unterernährung, Kinder werden in Plastiktüten begraben, weil man sich keinen Sarg leisten kann, und blutige Bandenkriege bedrohen das Leben von minderjährigen Kindern, die von ihren Eltern oftmals alleine zurückgelassen wurden, weil sie bei der beschwerlichen Flucht über tausende Kilometer zu Fuß für diese lediglich eine Last dargestellt hätten.
Die vergessene Krise
Für Liebezeit ist die venezolanische Krise eine vergessene Krise. „Da sie weder durch natürliche Ursachen noch durch Kriege ausgelöst wurde, besitzt sie keinerlei Nachrichtenwert. Denn die Situation hat sich nicht schlagartig, sondern schleichend über die Jahre hinweg so entwickelt.“ Obwohl uns die Krisen in Europa verständlicherweise näher seien, müsse man auch über die Situation in Venezuela sprechen, um uns die Menschen dort ins Bewusstsein zu bringen. Jahrelang war Venezuela aufgrund seiner reichhaltigen Bodenschätze (vor allem Öl) ein wohlhabendes Land. Korruption und Missmanagement haben das ins Gegenteil verkehrt. Da es im Land keine Gewaltentrennung gibt, erschießen Polizisten oft willkürlich Menschen, was Hinrichtungen gleichkomme. Auch Menschenrechtler haben es in Venezuela schwer, da sie blockiert und verfolgt werden, wenn sie öffentlich ihre Meinung kundtun. Im Juli stehen Neuwahlen im Land an, was die Hoffnung nährt, dass sich das eine oder andere bessern könnte. Aber auch in Deutschland kann man helfend tätig werden. Die erste Anlaufstelle für Venezolaner ist hierzulande der Bundesstaat Sachsen. Viele der Flüchtlinge sind sehr arm, den meisten mangelt es an Bildung. Da es in Deutschland viel zu wenig Sprachschulen gibt, kann man die Arbeit des Vereins „Einheit für Venezuela“ unterstützen, indem man den Geflohenen bei der Integration und beim Deutschlernen hilft. Milsy Liebezeit jedenfalls bleibt optimistisch, obwohl ihrer Meinung nach Lateinamerika aktuell komplett im Chaos versinkt: „Unser Kampf wird immer stärker, und wir verlieren nicht die Hoffnung, dass es einmal wieder besser wird.“
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