Kann es etwas Aktuelleres als die Beschäftigung mit Vorurteilen geben? Die 85-jährige Philosophin Ágnes Heller hat sich mit diesem Thema in ihrem ganzen Leben beschäftigt – notgedrungen möchte man meinen. Als Mädchen ist sie aus der Bahn gesprungen, die sie zur Deportation nach Auschwitz bringen sollte. Nach dem Krieg war sie die Assistentin des Philosophen und Literaturwissenschaftlers Georg Lukács. Heute lebt die jüdische Ungarin Ágnes Heller wieder in Budapest, nachdem sie sich 1956 am Aufstand in Budapest beteiligt hatte und 1977 das Land verließ, um in Melbourne eine Professur anzutreten. Später war sie die Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl in New York.
Philosophie ist für Heller eine praktische Angelegenheit, wie sie jetzt mit ihrem Buch „Die Welt der Vorurteile“ anschaulich demonstriert. Das Projekt wurde vom Sir Peter Ustinov Institut zur Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen herausgegeben. Es ist knapp und zupackend formuliert und liest sich wie ein Handbuch, perfekt geeignet für den Gebrauch im Alltag. Hier kann man nachschlagen: Was ist Terror, wie funktioniert er? Und erfährt, wie mit scheinbar willkürlichen Aktionen eine Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzt werden soll. Robespierre und Stalin haben es vorgemacht, jetzt versucht uns der IS einzuschüchtern. Das verbindende Merkmal, das sich durch die Generationen zieht, ist die Tugendhaftigkeit, die die Killer für sich reklamieren, während sie anderen das Leben nehmen. Zum Begriff des Bösen ist es da nicht weit, der für Heller geradeaus zur Ideologie führt. Womit sie ein System bezeichnet, in dem das Nein konsequent eliminiert wird.
Sie weiß, wovon sie spricht, lebt sie doch heute in Viktor Orbáns Ungarn. Beim ihrem Besuch in Köln beschreibt sie, wie Orbán jede Form von Opposition kaltgestellt hat. Opposition könnte nur noch mit Orbáns Genehmigung existieren. „Es herrscht eine totale Ohnmacht“, berichtet Heller. Schauen wir auf die Landkarte Europas, dann sehen wir, wie der ganze Kontinent ein Stück ins rechte Lager gerückt ist. Eine Situation, deren Parallelen Ágnes Heller zum Ende des Ersten Weltkriegs wiederfindet. Auch damals gab es die Unzufriedenheit mit den Demokratien, die dann in den Totalitarismus mündete.
Ohne Vorurteile können wir nicht leben, davon ist sie überzeugt. Wer möchte schon die Behauptung, dass Tokio eine Stadt in Japan sei, eigenen Fußes überprüfen? Den Unterschied vollzieht sie zwischen guten und schlechten Vorurteilen, wobei sie letztere darüber definiert, dass diese Form von übler Nachrede leidvolle Spuren bei den Betroffenen hinterlässt. „Hass und Isolation vergiften die Seele der Menschen, und sie vergiften auch die Seele derer, die die Vorurteile in die Welt setzen“, behauptet sie.
Obwohl es Vorurteile schon immer gegeben hat, setzt Ágnes Heller doch historisch eine Zäsur mit dem Aufkommen Moderne und der Gründung der Nationalstaaten. „Das Zeiterleben änderte sich, Geschwindigkeit wurde als Fortschritt interpretiert. Die Menschen fühlten sich überfordert und suchten Halt. Es entstanden die Kategorien ‚wir‘ und ‚sie‘, und die anderen werden uns zunehmend verdächtig. Allerdings müssen wir sie deshalb nicht hassen“, erklärt Heller. Vorurteile sind für sie selbstverständlich, nur müssen sie immer wieder in Frage gestellt werden. Dass es dabei verwirrend zugehen kann, zeigen mitunter die Tendenzen der political correctness. „Die war eigentlich als Waffe gegen Vorurteile gedacht und wurde dann selbst zur Quelle von Vorurteilen, weil sie übertrieben wurde. Vorurteile sind immer das Ergebnis von Übertreibungen“, sagt die Philosophin. Ihr Buch mit seinen pointierten Analysen beschert einem da schon einen klaren Kopf. Auch deshalb werden wir es wohl in Zukunft noch oft zur Hand nehmen müssen.
Ágnes Heller: Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches | Edition Konturen | 170 S. | 24 €
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