Von „Es ist ein großes Privileg, den Menschen zuschauen zu dürfen, die sich diesem Leben (als Tänzer) geweiht haben, und die diesen Kampf gegen den Verschleiß und den Tod nicht gewinnen können, oder nur für eine sehr kurze Zeit“. Das sagt Frederick Wiseman, der große alte Mann des britischen Dokumentarfilms, der in seinem neuen Werk „La Danse“ die Tänzer, Ballettmeister und Choreographen im Palais Garnier in Paris bei der Arbeit beobachtete. Ja, der Tod ist zu besiegen. In jenem Moment, in dem die Drehung, die Hebefigur oder der Sprung gelingt und uns berührt, weil sie zu einer Geste werden, die uns eine Erfahrung mit dem Dasein beglaubigt. Die Kunst des Tanzes wird dann selbst zu einem Erlebnis, das wir nicht mehr vergessen. So erklärt etwa eine alte Ballettmeisterin in der Pariser Oper den Tänzern, dass ihre gelungene Arbeit ein Geschenk an das Publikum ist. Auch wenn das Publikum nicht immer versteht, was dort geschieht, so spürt es doch, dass es etwas Einzigartiges ist.
Dafür geben Tänzer ihre Gesundheit und setzen ihre persönliche Zukunft aufs Spiel. Der Film erzählt vom Ringen um die richtige ästhetische Form und dem Preis für die knochenharte Arbeit. Auch die neue Jahresausstellung des Tanzmuseums des Deutschen Tanzarchivs blickt unter dem Titel „Tänzer.Sein – Körperlichkeit im Tanz“ hinter die Fassade des schönen Scheins. Und das nicht nur, um das Blut im Schuh zu zeigen, in den die Tänzerinnen ein Stück Fleisch gesteckt haben, um die Zehen beim Tanz auf der Spitze ein wenig zu schützen. Kurator Thomas Thorausch fragt nach der verhängnisvollen Bedeutung der Schönheit, eines Ideals, das den Körper nur als störanfälliges Instrument ins Kalkül zieht und ihn tendenziell abzuschaffen sucht. Auch Wiseman gibt eine Vorstellung davon, wenn die Tänzerinnen wie eine Armee zum ungezählten Male das Plié wiederholen und die Körper nur noch wie austauschbare Maschinen wirken. Die sind dann zwar graziös in ihren Bewegungen, aber auch ohne das Aroma eines individuellen Ausdrucks. So löscht die Perfektion die Authentizität aus.
Die Ausstellung, in der neben Fotografien auch Videos von Andy Warhol, die ersten noch zerbrechlich wirkenden Studien von Pina Bausch oder der letzte Sprung des geistig umnachteten Nijinsky zu sehen sind, zeigt, wie sich mit dem Verlust der Gegenwart des Körpers in den digitalen Medien auch seine Gestalt aufzulösen beginnt. Die Schönheit des Körpers, das ist irgendwann nur noch eine flüchtige Bewegung, ein Kometenschweif oder einfach ein Streifen im Bild. Aber was ist mit der Erdenschwere, der Hässlichkeit, der Verletzung, dem Alter? Gerade in jenen Sequenzen, in denen Wiseman betagte Ballettmeister beim Vortanzen beobachtet, entfaltet sich wuchtige Präsenz. Denn der Tanz wird letztlich durch die Kraft der Geste zum Kunstwerk, das ergreift, weil der Körper in seiner Trägheit für einen Moment hinter der Perfektion der Tanzfigur sichtbar wird. Man versteht, warum Menschen süchtig nach tänzerischem Ausdruck sind. Wisemans Film und die vielschichtige Ausstellung des Tanzmuseums machen deutlich, warum man sich noch nach Jahren an eine Choreographie erinnert. Wo kann man etwas mit vergleichbarer Nachhaltigkeit kaufen? Film und Ausstellung ergänzen sich sehr schön, weil Frederick Wiseman die Arbeit am Körper beobachtet, während die Ausstellung die Frage nach der Schönheit und den Mechanismen stellt, die im Schönheitsdiktat am Werk sind.
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