„… als sollte die Scham ihn überleben.“ Mit diesen Worten endet Franz Kafkas Roman „Der Prozess“. Wie kann uns die Scham überleben? In Zeiten des Internets ist das kein Problem. Auch wenn man nicht mehr real existiert, steht man dort weiter am Pranger. Die Italienerin Tiziana Cantone nahm sich das Leben, nachdem ein Freund pornografisches Material von ihr ins Netz gestellt hatte. Auslöser für die Selbsttötung waren aber nicht die Bilder, sondern die Reaktionen auf sie. Oder die Tragödie der Izabel Laxamanas, die gegen das Verbot ihres Vaters verstieß, keine Selfies ins Netz zu stellen. Er schor ihr zur die Haare und veröffentlichte die Aktion in den sozialen Netzwerken. Izabels Scham darüber war so groß, dass sie nur noch den Tod als Möglichkeit sah, um das verletzte Selbst zu schützen.
Auch wenn Mobbing und öffentliche Demütigung mit den digitalen Medien eine ungeahnte Verbreitung gefunden haben, so zieht sich das Phänomen des Prangers durch die Menschheitsgeschichte. In den USA ist es heute noch üblich, Menschen auf einer Straßenkreuzung mit einem Schild auszustellen, auf dem ihre Verfehlung beschrieben wird. Wir kennen solche Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus, als Menschen jüdischer Herkunft oder solche die Beziehungen mit ihnen unterhielten ein Plakat umgehangen bekamen. Ute Frevert zeigt auf dem Cover ihres Buches „Die Politik der Demütigung“ eine junge Frau, der man 1944 in Frankreich öffentlich die Haare schor, weil sie eine Beziehung mit einem deutschen Besatzungssoldaten eingegangen war.
Warum tun Menschen das anderen Menschen an? Das alte pädagogische Muster geht davon aus, dass jemand für ein Vergehen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, um ihn später wieder reumütig zu integrieren. Nur ist die Verletzung gemeinhin so tief, dass sie gleich einem Stigma nie wieder vergessen werden kann. Selbst den Nazis war dieser Zusammenhang irgendwann klar, so dass sie die Identifikation mit den Opfern fürchteten und von der Praxis des Prangers zunehmend absahen. Ute Frevert geht den historischen Entwicklungen nach und definiert den Kern des Phänomens, wenn sie sagt: „Es ist das Gefühl, Macht zu besitzen, anderen auch gegen deren Widerstand den eigenen Willen aufzwingen zu können.“ Je mehr Menschen an diesen Machtdemonstrationen teilnehmen, umso „genussreicher“ ist es für diejenigen, die die Demütigung inszenieren. In dem Moment, in dem sich die Delinquenten jedoch nicht mit der vorgegebenen Moral identifizieren oder das Publikum seine Sympathie mit dem Opfer bekundet, kann sich das Spektakel gegen den Verursacher wenden. Frevert beschreibt, wie das im Fall von Daniel Defoe in London geschah, als die Schaulustigen nicht ihn, sondern die Obrigkeit verlachten.
Neben dem Internet war und ist es immer wieder der Zeitungspranger, an dem die Hexenjagd ausgeht. Interessant zu beobachten, wie im Fall Dominique Strauss-Kahn sein Opfer gezielt gedemütigt wurde und wie im Fall von Harvey Weinstein jene Medien nun auf den Filmmogul losgehen, die sich ihm zuvor dienstbar gemacht hatten, als sie in seinem Interesse von ihm verschmähte Frauen in den Schmutz zogen. Ute Freverts Untersuchung liest sich ungemein spannend. So beschreibt sie, wie Staaten einander demütigen. Andererseits empfinden Menschen mitunter Gesten wie Willy Brandts Kniefall in Warschau oder Barack Obamas Ehrerbietung gegenüber dem japanischen Kaiser als Verletzung des eigenen Nationalstolzes. Letztlich sind wir alle die Öffentlichkeit, und es ist eine erfreuliche Fußnote dieses interessanten Buches, dass es uns daran erinnert, dass wir bei der unwürdigen Prozedur der öffentlichen Demütigung keineswegs mitspielen müssen.
Ute Frevert: Die Politik der Demütigung | S. Fischer Verlag | 330 S. | 25 €
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