Was für ein schöner Roman und was für eine schreckliche Geschichte. Sie erzählt von einem sechsjährigen Mädchen, das seinen Namen nicht kennt. Auf einem Markt wird es ausgesetzt. Zum Lebensmittelhändler soll es gehen. Das Kind tut, wie ihm geheißen. Tatsächlich gibt der Händler ihm etwas zu essen. Sie muss wieder gehen, kommt am nächsten Tag zurück. Das Spiel wiederholt sich, aber dann verirrt sie sich in der fremden Stadt. Sie spricht nicht die Sprache der Menschen, schläft nachts in einem Container, stellt sich tagsüber in den Windfang eines Cafés. Irgendwann wird sie aufgegriffen und in ein Heim gesteckt. Mit zwei älteren Jungen flieht sie, die Kinder schlafen in Heuschobern, stehlen Nahrung, bis „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ krank wird.
Der Titel des neuen Romans von Michael Köhlmeier klingt märchenhaft, und man könnte denn auch an „Das Mädchen mit den Zündhölzern“ denken, das letztlich erfriert. Vom Fingerhut ist die Rede, weil sich Yiza – diesen Namen erfindet sich das Kind – an einer Glasscherbe verletzt und die Wunde auf der Flucht immer wieder versorgt werden muss. Köhlmeier erzählt von einem Kind, das in die Welt gefallen ist. „Alle haben eine Freude an ihr“, sagt einer der Jungen, und trotzdem versteht niemand das Mädchen, weil es im besten Fall gerade einmal mit Essen und neuen Kleidern versorgt wird, sich aber niemand fragt, was in seinem Inneren vor sich geht. Die Welt ist nicht so, und Köhlmeier quittiert diese Tatsache nicht mit sentimentalem Bedauern. Um den verführerischen Momenten des Mitgefühls zu entgehen, sind die Sätze auf das Nötigste reduziert. Damit steigt das Tempo, denn nun gilt es, das Geschehen zu konstatieren. Die Sprache entwickelt einen Sog, der uns mit den Kindern fortzieht.
An keiner Stelle des Romans fällt das Wort vom Flüchtling und es ist wird auch nicht so recht deutlich, wo sich dieses Land befindet, in dem das Kind ausgesetzt wird. Offenbar handelt es sich aber um ein westeuropäisches Land, vielleicht Österreich. Es gibt Wohlstand, eine keineswegs unfreundliche Polizei und dennoch fallen die Kinder durch das Raster dieser Gesellschaft. Die drei, die sich tapfer zur Seite stehen, sind einer grenzenlosen Einsamkeit ausgesetzt, die sie – wie Kinder nun einmal sind – niemals thematisieren, da sie sich selbst nicht von außen zu Gesicht bekommen. Einmal wird vom „Abschieben“ gesprochen, aber wohin soll man ein Kind abschieben, das keinen Namen und keine Familie hat?
So bitter die Geschichte, so großartig ist diese Prosa konzipiert, die wieder einmal Michael Köhlmeiers Sonderstellung in der deutschsprachigen Literatur unserer Tage belegt. Eine archaische Wucht ist in ihr enthalten, die unabhängig von tagespolitischen Ereignissen vom Menschsein erzählt, seiner Unerbittlichkeit, seinem Erfindungsreichtum und seinem Überlebenswillen. In dem wir mit Köhlmeier auf das Kind schauen, fällt alles an gesellschaftlicher und psychologischer Verpackung, die Erwachsene gemeinhin umgibt, von seiner kleinen Heldin ab. Ein Roman, der unter die Haut geht und zugleich von vitaler Klarheit durchströmt ist. Michael Köhlmeier wird ihn auf der lit.Cologne (11.3., 19 Uhr, Rotunde der Sparkasse KölnBonn) vorstellen.
Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut | Hanser | 140 S. | 18,90 €
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