Eine Frau, die sagt, was sie denkt, kann in Europa schnell ihren Job verlieren. Die 1973 in Kalkutta geborene und seit 2001 in Paris lebende Shumona Sinha verdiente ihr Geld als Dolmetscherin in einer Agentur der französischen Asylbehörde. Nachdem ihr Roman „Erschlagt die Armen“ 2011 in Frankreich erschienen war, erhielt sie die Kündigung. Zwar ging ein Aufschrei der Empörung durch die Feuilletons, aber an dem Rausschmiss änderte das nichts. Zu nah war die Bengalin den nationalen Tabus gekommen.
Zwölf Stunden am Tag hatte sie in der „Lügenmaschine“ gearbeitet. Wenn sie nach Hause kam, war sie todmüde, aber schlafen konnte sie erst, wenn sie eine Begebenheit des Tages niedergeschrieben hatte. Für Shumona Sinha war das Schreiben eine Überlebensstrategie. Heute kann sie über die Reaktion der Behörde lachen, wie sie jetzt im Institut Français gestand, wohin sie die Buchhandlung Bittner und das Literaturhaus Köln eingeladen hatten. Der Roman – dessen Titel einem Baudelaire-Zitat entnommen ist – besteht aus dem fulminanten Monolog einer Übersetzerin, die verhaftet wurde, nachdem sie einem Asylsuchenden eine Weinflasche über den Kopf gezogen hatte.
Auch wenn Erzählerin und Autorin nicht identisch sind, so decken sich ihre Erfahrungen. Für Sinha ist der überwiegende Teil der Asylsuchenden nicht politisch verfolgt. „Natürlich sind die Menschen aus Syrien oder dem Tschad vom Krieg bedroht“, räumt sie ein. Die Masse der Asylsuchenden treibe jedoch Umweltkatastrophen und die wirtschaftliche Not nach Europa. Und sie bietet einen Ausblick auf die zukünftigen Menschenströme, wenn sie zu bedenken gibt, dass ein Land wie Bangladesch in zehn Jahren möglicherweise gar nicht mehr existieren wird.
Nur politisch Verfolgte besitzen Anspruch auf Asyl, „also müssen die Menschen die Wahrheit verschweigen und eine Geschichte erfinden“. Aus dieser Situation entsteht „die Lügenmaschine, in der alles falsch ist, die Geschichten und die Identitäten“. Ihr Roman enthält bittere wie schreiend komische Szenen. Die Überprüfung der politischen Motive durch die Behörde entpuppt sich als Hirngespinst eines ratlosen europäischen Denkens. Eine Situation, die derzeit von Schweden bis an den Bosporus millionenfach exerziert wird. Die Absurdität dieses rhetorischen Schattenboxens verursacht in Sinha einen tiefen moralischen Ekel. Sie sieht die Selbsterniedrigung der Betroffenen und beobachtet den postkolonialen Rassismus, der im Bewusstsein der Flüchtenden verankert ist, die alle am europäischen Way of Life gesunden wollen. Der Roman spiegelt die Schizophrenie der politischen Situation aber auch in den psychologischen Beobachtungen wieder. So entgehen Sinha auch nicht die Gesten, in denen sich Beamte oder Bittsteller verraten, so dass die Körper von etwas anderem erzählen, als die Worte. Ein Theater, dessen Schmierenpotenzial alle Beteiligten geflissentlich übersehen.
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! | Dt. von Lena Müller | Edition Nautilus | 128 S. | 18 €
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