Jan Wagner gehört wohl zu den bekanntesten Namen der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik, nicht erst seit die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung unlängst bekannt gab, den Georg-Büchner-Preis in diesem Jahr an den in Berlin lebenden Dichter zu vergeben. Zu größerer Bekanntheit gelangte er bereits 2015, als seine Anthologie „Regentonnenvariationen“ den Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik erhielt – das erste Mal, dass dieser Preis an ein lyrisches Werk vergeben wurde. Auf einen Nachfolger des Erfolgswerks wartet die literarische Welt noch, in diesem Jahr trat Wagner dafür zum ersten Mal als Prosa-Autor in Erscheinung: In „Der verschlossene Raum“, erschienen bei Hanser Berlin, versammelt er Vorträge, Reden, Essays und „lyrische Postkarten“ von Orten wie Rom, Kalifornien und Neukölln. Diese „Beiläufige Prosa“, so der Untertitel, sollte denn auch bei Wagners Besuch im Kölner Literaturhaus im Vordergrund stehen, wo er vor vollbesetzten Reihen aus seinen Texten las und sich den Fragen von Frank Olbert, Kulturredakteur des Kölner Stadtanzeigers, stellte.
In einem seiner Essays, einer Selbstvorstellung für die Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz, beschreibt er etwa sein gutbürgerliches Heranwachsen in gediegener norddeutscher Umgebung, „wo die Rapsfelder noch vor der Sonne aufgehen und zu leuchten beginnen und schwarzweiße Kühe die höchsten Erhebungen darstellen“. Den „steten Wunsch, das Leben schreibend zu verbringen“ bekommt er bereits mit dem Schreibmaschinenklappern aus dem väterlichen Arbeitszimmer und der reichhaltigen Bibliothek der Eltern eingeimpft. Ein Wunsch, der ihn in seinem Anglistik-Studium auf den Spuren von James Joyce bis ans Trinity College in Dublin führt, wo er bei Meistern der Zunft in die Lehre geht.
Als leidenden Künstler stellt sich Wagner nun wirklich nicht dar. Stattdessen schreibt er demütig von dem „Mehr als dem Quäntchen Glück, das jedem zusteht“, dass er sich als Lyriker und Übersetzer englischsprachiger Lyrik dem widmen darf, was er als „Die Essenz der Literatur“ begreift – und dass obendrein auch noch seine Muse bereit gewesen sei, mit ihm die Ringe zu tauschen und nach Neukölln zu ziehen.
Auch in seinem prosaischen Schreiben sind Bildkraft und Gestaltungswillen des Lyrikers immer spürbar. Als Prosaautor sehe er sich denn auch nicht, auch wenn es ihm Spaß mache, wie er freimütig zugibt – Prosa schreibe er nur, wenn er dazu aufgefordert werde. Und so lenkt sich das Gespräch auch an diesem Abend recht bald auf sein eigentliches Anliegen, die Lyrik. Denn nur in einem Gedicht komme Sprache auf so engem Raum zusammen, dass sie gleichzeitig berausche und Hellsichtigkeit verleihe. Ein Gedicht von Robert Frost etwa sei ihm „absolut neu, aber gleichzeitig so vertraut, dass ich nicht mehr bereit bin, die Welt anders zu sehen als er“.
Bei der Übersetzung von Gedichten fremdsprachiger Lyriker wie Frost müsse man derweil „verzichten“ können. Um den schmerzlichen Verlust von sprachlichen Eigentümlichkeiten käme man in der Übersetzung nicht herum. Als Übersetzter sei man daher genötigt, selbst als Dichter zu agieren, als „lyrischer Sparringspartner“.
In seinen eigenen Gedichten spielt er mit Bildern von alternden Motorradfahrern oder von Stürzen in alte Brunnen, schreibt über Unkraut, Insekten und Erinnerungen an seine Klavierlehrerin. Ein Großstadtyriker ist er nicht – seine Berlin-Gedichte seien alle vor seinem Umzug in die Hauptstadt entstanden, sagt er – als Naturlyriker sieht er sich jedoch auch nicht. Ihm gehe es nicht um Idylle, so Wagner, vielmehr glaube er, dass auch Gedichte über Gras „alles an Welt enthalten können – sowohl die Schönheit, als auch die Scheußlichkeit.“
Auf den Status der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik angesprochen, spart Wagner nicht mit Lob für die Kollegen. Seit etwa 15 Jahren gebe es einen unheimlichen Reichtum an Lyrik auf höchstem Niveau – „und jedes Jahr kommen neue Debüts hinzu, jedes auf seine Weise interessant“. Auf die leidige Frage nach einer Definition der disparaten, von allen Konventionen befreiten modernen Dichtung hin, möchte er sich denn auch nicht festlegen lassen. „Es gibt so viele Arten, Gedichte zu schreiben, wie es Dichter gibt“, so Wagner. Ob dem Experiment verpflichtet, dem Sprachspiel oder politischer Motivation, aus der Sicht historischer Persönlichkeiten oder unbelebter Gegenstände – alles sei erlaubt und frei kombinierbar.
„Auch die Rebellion gehört ja inzwischen zur Tradition“, meint Wagner, weshalb auch die Rückkehr zu traditionellen Formen, wie dem Sonett, wieder Experiment sein könne. „Setzt man sich dem Zwang einer strengeren Form wie dem Sonett aus, führt einen das notwendigerweise in neue bildliche Bereiche und zu Ergebnissen, mit denen man vorher nicht gerechnet hätte.“
Jan Wagner: Der verschlossene Raum: Beiläufige Prosa | Hanser | 272 S. | 22 €
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