Einen Tag, bevor der Film „Nader und Simin – Eine Trennung“ offiziell in die Kinos kommt, lädt die filmsociety Köln zu einer Preview mit anschließender Diskussion ins Odeon. Sein Ruf eilt dem Film voraus. Die Bären und die Berichterstattung sorgen für Andrang, und die Besucherschlange reicht aus dem schmalen Foyer bis auf den Bürgersteig. Der Saal ist also zu Beginn des Films voll, und die Luft entsprechend warm. Doch kommt das Klima im Saal durchaus der Stimmung im Film zupass, mit seinen Szenen aus Teheran, in dem kaum eine Innenaufnahme ohne Ventilator auskommt. In dieser Welt lebt das Ehepaar Nader und Simin zusammen mit ihrer Tochter. Simin allerdings möchte ins Ausland ziehen und der Tochter eine bessere Zukunft bieten. Nader widersetzt sich, er will bei seinem alzheimerkranken Vater bleiben und auch die Tochter nicht hergeben. Vordergründig geht es in Nader und Simin also nicht um Politik. Es geht um Themen wie Beziehungskonflikte, den Umgang mit alten Menschen in einer Gesellschaft, den Umgang mit Kindern, und schließlich auch um Glaubenskonflikte. So weckt der Film einigen Diskussionsbedarf, wie sich im Anschluss zeigt.
Als Gast ist Jasmin Khatami geladen: Die Filmemacherin und Journalistin hat selbst iranische Wurzeln; sie kennt den Iran gut und sprach auf der Berlinale mit Darstellern des Films. Das Gespräch eröffnet sie mit einer simplen Frage: „Wie viele von Ihnen waren noch nie im Iran?“ Bis auf wenige Ausnahmen heben sich die Hände im Saal. „Und wer von Ihnen hat nach dem Film ein Gefühl für den Iran bekommen?“ Die erneut zahlreichen Handzeichen zeigen an, was Jasmin Khatami als wichtigsten Verdienst des Films und Zeugnis seiner Qualität sieht: Dass er ein realistisches Bild vom Iran vermittelt. Das Zitat eines Iraners, das die Journalistin anbringt, gibt die Lage treffend wieder: „Glauben die Europäer nun immer noch, dass wir auf Kamelen reiten?“ Viele Zuschauer sind nach dem Film positiv überrascht über das Land; es zeigt sich, dass der Iran nicht so weit von der europäischen Alltagskultur entfernt ist, wie es vielleicht vielen hierzulande erscheint – und wie uns auch die Nachrichten vermitteln. Nachrichten sind eben nicht alles. Das Publikum reagiert mit einer Grundsatzdiskussion: Sind die meisten Konflikte des Films überhaupt typisch iranisch, wie es auf den ersten Blick erscheint? Sind sie nicht vielmehr allzu leicht auch auf Deutschland übertragbar? Jasmin Khatami bringt die Meinungen auf den Punkt: Der Film reduziere sich nicht nur auf Religion, vielmehr habe er „etwas extrem Universelles“. So gelangt der Abend rasch zum Kern vieler Besprechungen und Rezensionen mit der Frage, wie politisch der Film letzten Endes ist. Doch darüber scheiden sich im Odeon die Geister.
Dennoch ist das Publikum um Eindrücke über das Leben im Iran reicher, viele regt das zum Nachdenken an. Die Frage Jasmin Khatamis kleidet diese Nachdenklichkeit in Worte: „Hätte jemand von Ihnen eine Idee, wie man die Probleme im Film hätte lösen können?“ Sie gibt sich selbst salopp eine Antwort, denn der Saal, der so lebhaft diskutieren kann, schweigt: „Nee … ich nämlich auch nicht.“
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