In seinem aktuellen Roman „Sanierungsgebiete“ konfrontiert Enno Stahl seine Protagonisten und Leser mit den Auswüchsen der modernen Immobilienspekulation. Im Interview spricht er über die Turbojahre des Kapitalismus, die Besonderheiten der Berliner Gentrifizierung, die Notwendigkeit von analytischem Realismus und die Halbwertzeit von Literatur.
choices: Herr Stahl, „Sanierungsgebiete“ ist der sechste Teil Ihres „Turbojahre“-Zyklus, an dem Sie seit „Peewee Rocks“ (1997) schreiben. Was hält diese Texte zusammen, was sind diese Turbojahre?
Enno Stahl: Wie der Begriff Turbo schon andeutet, geht es da um den Turbokapitalismus. Also das, was Mitte der 90er Jahre eingesetzt hat, eine totale Beschleunigung der Produktion, durch die Globalisierung und durch die verstärkte Bedeutung der Finanzwirtschaft, all diese Veränderungen, die dann auch in unserem Arbeitsleben passiert sind, wo viele den Eindruck haben, dass da eine extreme Beschleunigung eingesetzt hat. Dazu gibt es auch soziologische Untersuchungen, die etwa einen Grund für den wachsenden Rechtsextremismus darin sehen, dass viele Leute kulturell noch wo ganz anders verortet sind, einem ganz alten Arbeitsbegriff verpflichtet sind – zuverlässig, hartnäckig, „Ich bin immer auf der Arbeit“ –, nur dass sich die Welt mittlerweile völlig gedreht hat, dass es inzwischen darum geht, unheimlich flexibel zu sein, lebenslang zu lernen, immer wieder vom einen ins andere zu springen. Das sind Indikatoren, wie sich etwas verändert hat. Ich versuche in dem Zyklus die Perspektive jeweils auf bestimmte Felder zu legen und die dann unter diesem Aspekt zu behandeln.
In diesem Fall ist Gentrifizierung das Thema, wie kommt es dazu?
Gerade in Berlin ist das eine Sache, die man extrem gut beobachten konnte. Da ist eine Immobilienblase entstanden, eigentlich eine unglaubliche Wertschöpfung. Es gibt Beispiele vom Stadtsoziologen Andrej Holm, dass ein Haus für 800.000 € Ende der 90er Jahre verkauft wurde, zwei Jahre später wurde es für 2,3 Millionen verkauft, anderthalb Jahre später für 5,4 und noch ein Jahr später für 8 – das sind unglaubliche Margen, weil es da tatsächlich gar nicht mehr um Wohnungen geht oder darum, Leuten eine Wohnung zu geben. Es geht um reine Spekulation.
Die Situation in Berlin war besonders dadurch, dass diese großen Altbestände von Hunderttausenden von Wohnungen aus DDR-Vermögen, das sind alles Wohnungsbaugesellschaften gewesen, dem Land Berlin zugefallen sind, und die, pleite, wie sie war, überhaupt nicht in der Lage war, die zu sanieren. Deswegen wurden die im großen Maß privatisiert. Die haben sehr viel verkauft, in großen Schwüngen, mal 60.000 hier, mal 70.000 dort, haben die Wohnungsbaugesellschaften zusammengelegt, immer mehr monopolisiert. Dazu kam aber noch die Situation, dass nach der Wiedervereinigung Restitutionsansprüche bestanden, also beispielsweise amerikanische Juden, die in Berlin Besitz gehabt hatten und von den Nazis enteignet wurden, die Möglichkeit bekamen, ihren Besitz zurückzufordern, was viele aber gar nicht mehr wollten. Da ist dann dieses Investmentkapital eingesprungen und hat die Besitzansprüche aufgekauft. Das heißt, es ist in sehr kurzer Zeit sehr viel Geld generiert worden und das ist sehr monopolisiert gewesen, in der Hand weniger größerer Investmentholdings immer größere Wohnungsbestände, für die überhaupt gar kein Vermietungsinteresse bestand. Da kann man sehen, wie sich diese Turboisierung der Wirtschaft in diesem Bereich auswirkt.
Das ist in Berlin wesentlich besser zu sehen als in jeder anderen Stadt der Welt, obwohl es in allen Städten der Welt eine Rolle spielt. Wo ich wohne, in Neuss, vielleicht nicht so, aber auf der anderen Rheinseite, in Düsseldorf, natürlich auch. Und hier in Köln: Ehrenfeld schon ewig, Nippes etwas später, auch die rechte Rheinseite ist längst erfasst davon. Das sind Prozesse, die überall passieren. Deswegen ist es wichtig, sowas zu beschreiben. Aber tatsächlich ist es nirgendwo so ausgeprägt wie in Berlin, weil da dieser Effekt der Globalisierung, der internationalen Finanzwirtschaft, der Global Player, die da eingreifen, eine ganz eigene Qualität hat – es sind ja nur sieben oder acht Firmen, denen mittlerweile große Teile Berlins gehören.
Sie erzählen das am Beispiel von Prenzlauer Berg, dem Vorzeigeobjekt der Gentrifizierung. Ist das hier, im „rheinischen Kapitalismus“, anders?
Da ist eigentlich gar nichts anders, außer dass es für die Investoren nicht so interessant ist. Die Immobilienpreise und Mieten sind hier längst vor Berlin Thema gewesen, sie waren sehr hoch und sind es immer noch, womöglich noch höher als in Berlin, aber in Berlin war der Unterschied, dass Leute damals gar nichts bezahlt haben für riesige Wohnungen. Wenn man das mitbekommen hat, wenn man dort lebte, dass man früher mal drei Mark für den Quadratmeter bezahlte und jetzt sollen es 20 € sein, das ist natürlich überdimensional und die Leute empfinden das stärker.
Es ist natürlich eine totale Segregation gewesen, um nicht zu sagen, ein kompletter Austausch. Da war wirklich mal ein großer Austausch, von dem die Identitäre Bewegung immer fantasiert, weil tatsächlich die angestammte Bevölkerung, der gesamte Prenzlauer Berg, auf eine Art entvölkert und mit neuen Leuten besetzt worden ist. Das hat der Sanierungsbeauftragte des Quartiers, mit dem ich mich im Roman hauptsächlich befasse, Sanierungsgebiet Kollwitzplatz, in einer Analyse feststellen lassen. Die hatten die Auflage, dass sozial saniert wird, und tatsächlich haben sie dann gemerkt – die Studie wurde nirgends veröffentlicht, ich wollte da immer drankommen, habe aber nur die Ergebnisse irgendwo lesen können – 50 Prozent Austausch allein in dieser Zeit. Das waren vielleicht 7 bis 8 Jahre, in denen dieses Sanierungsgebiet eingerichtet war, was besondere Auflagen bedeutet, und in der Zeit ist die Hälfte der Bevölkerung weggezogen. Und davor war ja auch schon Austausch. Das zeigt schon, wie sozial das Ganze war.
Für diesen Austausch, für das Überleben darin, liest sich der Roman mitunter wie eine Erklärung, ein Ratgeber oder Handbuch. Soll das so sein?
Ratgeber vielleicht nicht, aber es soll auch Widerstandsformen und -möglichkeiten auftun und aufzeigen. All die Personen die im Roman eine Rolle spielen und auf verschiedene Weise involviert sind, wenden sich auch alle, auf seine oder ihre Art, dagegen.
Für ihr Schreiben haben Sie den Begriff des „analytischen Realismus“ geprägt. Was muss man sich darunter vorstellen?
Generell ist Realismus ein Begriff, der seit mindestens 200 Jahren ventiliert wird, wenn man will, kann man ihn sogar bis auf die Mimesis-Theorie von Aristoteles zurückführen. Es ist so, dass wir nach der Hochphase des Realismus um 1880 noch mal nach dem Zweiten Weltkrieg den italienischen Neorealismus hatten, im Film, aber auch in Literatur, Pasolinis Bücher zum Beispiel. Das sind so Elendsgeschichten, weil es dort nach dem Krieg eine große soziale Spreizung in der Gesellschaft gab. Es gibt den Film „Fahrraddiebe“ von Vittorio De Sica, wo einem armen Mann, der als Plakatierer arbeitet, das Fahrrad gestohlen wird. Das wird zum Leitmotiv, weil davon seine gesamte Existenz abhängt. Er kann sich kein neues kaufen, nur wenn er eins hat, kann er arbeiten. Er klaut eins, wird aber gestellt, alles ist sehr unangenehm.
Solche Elendsgeschichten, das ist nur ein Beispiel, kann man heute nicht mehr so erzählen, weil es das alles schon zu oft gegeben hat. Das heißt, wenn man das tut, wenn man das nur so abschildert, ist man immer in einer Version von dieser Form von realistischem Erzählen. Ich meine, damit man überhaupt noch realistisch erzählen und damit so etwas bewirken kann wie eine Gesellschaftskritik, muss man eine zweite Ebene einbauen. Man muss Verfremdungselemente und analytische Momente, was bei mir oft Statistiken sind, einbauen, um die Erzählung aufzubrechen und zu relativieren.
Ich hatte eine Stelle in meinem früheren Roman „Spätkirmes“, da wurde ich gefragt: Warum hast du das so gemacht? Da kommt eine Szene vor, die ich auch real erlebt habe bei einer Spätkirmes, da war einer, der hat sehr betrunken Kinder angetanzt, da sind die alle sehr sauer geworden und haben den weggescheucht. Irgendwann lag er dann auf der Straße, völlig bewusstlos, und die Leute waren ein bisschen lynchbereit, sozusagen. Ich habe diese Szene erzählt als eine Art Dramolett, also total gekünstelt, so eine überzogen-manirierte Theatersprache. Und das ist im Grunde schon diese analytische Ebene. Wenn ich es so erzählt hätte, wie es gewesen ist, hätte das gar keine Kraft gehabt. Aber durch die Übersteigerung der Affekte hatte das einen Moment der höheren Wahrheit. Das ist der Aspekt, bei dem es letztlich im analytischen Realismus geht, dass man eine weitere Ebene der Analyse schafft, vor allem den sozialen Kontext mitliefert, die Widersprüche der Gesellschaft. Beim Beispiel der Gentrifizierung etwa geht es also darum, dass die wirtschaftlichen Aspekte nicht außen vor gelassen werden, dass eben nicht nur eine Geschichte über die Menschen erzählt wird, sondern auch der soziale und ökonomische Kontext dahinter aufscheint. Das Wichtigste aber ist immer die Haltung des Autors, die Position, die er zu diesen Phänomenen einnimmt. Und diese Haltung, das ist die Essenz des analytischen Realismus, kommt dann im Plot der Geschichte komprimiert zum Ausdruck, so dass jeder es versteht.
Dazu ist dann ein 600-seitiger Roman notwendig? Für dieses Anliegen könnte man mit anderen Medien vielleicht ein größeres Publikum erreichen, ich denke da etwa an Ken Loachs Filme.
Der ist eben Filmemacher, ich nicht. Man muss dazu auch sagen, wer immer die Literatur totsagt: Bücher die 50, 200, 2000 Jahre alt sind, werden immer noch gelesen, Filme, die 20 Jahre alt sind, kaum noch gesehen. Die kann man ja manchmal gar nicht mehr sehen, weil man sie nicht mehr kriegt. Das ist gerade ganz schlimm geworden, wenn man von tollen Filmemachern, Nouvelle Vague oder so, Filme sehen will, kann man vielleicht Videos irgendwo kaufen, aber wer schaut schon noch Videos. Streamen kann man die nicht, es interessiert die Streaminganbieter nicht. Es wird vielleicht irgendwann wiederkommen, aber Fakt ist: Filme haben keine hohe Haltbarkeit.
Enno Stahl: Sanierungsgebiete | Verbrecher Verlag | 592 S. | 29 €
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