Leider ist der Raum nicht voll an diesem Mittwochabend im King Georg. Vielleicht liegt es am schwülen Wetter. Schade eigentlich, von Köln hätte man etwas mehr Support erwarten können, denn die Lesung „Boy Erased“ des amerikanischen Schriftstellers Garrard Conley ist angesichts der Lage in den USA politischer und aktueller denn je. Andererseits ist diese intime Nähe zum Publikum ebenfalls sehr intensiv. So kann jenes den drastischen Geschichten des 33-Jährigen, in einer kleinen Stadt im Staat Arkansas geborenen Autors von Angesicht zu Angesicht lauschen. Er nimmt dieses Desinteresse an jenem Abend – wie vieles in seinem Leben – mit Gelassenheit und Humor. So lächelt Conley den ganzen Abend über, während er knallharte Fakten und berührende Geschichten in den Raum hineinwirft. Geschichten aus seinem eigenen Leben.
Das autobiografische Buch „Boy Erased“, das zu schreiben ihn Überwindung gekostet und an dem er insgesamt zwei Jahre geschrieben habe, ist ein Striptease seiner persönlichen Coming-out-Geschichte. Die 2016 erstmals in den USA und 2018 in deutscher Sprache erschienene Lebensgeschichte Conleys, der Kreatives Schreiben und Queere Theorie studierte, seien „eine narrative Flucht“, um sich von den obskuren Erlebnissen und den Schmerzen zu befreien, die ihm das Bekenntnis zu seiner Sexualität einbrachten. Eine Orientierung, die eben ein kleines bisschen anders war als die der baptistischen Bewohner um ihn herum.
Doch eigentlich ist es ursprünglich gar kein freiwilliges Eingeständnis, outet doch ein Bekannter ihn, den damals 19-Jährigen Außenseiter, vor seinen Eltern als schwul. Aufgewachsen in einem spießbürgerlichen, christlich-fundamentalistisch geprägten Umfeld, dem sogenannten Bible Belt, beginnt für Conley fortan ein Kampf gegen die ihm eingeprägte Scham durch seinen Vater Marshall Conley, einem Baptistenprediger, und seiner in eine patriarchalische Gesellschaft hineingeborene Mutter, Nancy Conley, „wenngleich sie auch gut aussah und eigentlich ganz nett war,“ wie Conley betont.
Ein Spießrutenlauf beginnt – als absoluter Sonderling in einer Gemeinde, in der es offiziell überhaupt keine Homosexualität gab. Seine Eltern, die nicht wissen, wie sie mit der Andersartigkeit ihres Sohnes umgehen sollen und glauben, er sei von Dämonen besessen, legen ihm fortan eine sogenannte „Konversionstherapie“, auch „Entschwulung“ genannt, auf und schicken ihn zu „Love in Action“, einer kirchlichen „Ex-Gay“-Organisation, um ihren Sohn in zwölf Schritten mit der Kraft Jesu Christi von der Liebe zum eigenen Geschlecht „zu heilen“, von unreinen Trieben zu säubern, seinen Glauben zu festigen und aus ihm einen Ex-Schwulen zu machen. Eine nicht nur unfassbar groteske, übergriffige Herangehensweise, sondern auch eine äußerst kostspielige, die meist von religiösen Interessensvertretern motiviert wird. In den USA leider keine Seltenheit: Fast 700.000 Amerikaner aus der LGBT-Community wurden schon einmal im Laufe ihres Lebens Opfer einer sogenannten „Konversionstherapie“, mussten sich schon einmal einer Umerziehung unterziehen, wie jüngst aus einer Studie des Williams Instituts der Universität von Kalifornien hervorging.
Eine alarmierende Zahl, die auch ein erschreckendes Bild von einem sonst stets Werte wie Freiheit und Individualität predigenden Amerika zeichnet, mit dem wir heute mehr denn je konfrontiert sind. Auch stellt sich die Frage: Wie können Eltern ihrem Kind so etwas antun? Hex hex – Löschtaste gedrückt – und weg ist das Liebesleben ihres Sohnes? Und was geschieht psychologisch mit einem Kind, wenn ihm die Identität ausradiert werden soll? Wie erinnert man sich an eine Zeit, in der man ausgelöscht werden sollte? Der Autor und Protagonist dieser Memoiren – immerhin physisch noch nicht eliminiert, sonst säße er nicht heute hier – muss sich von nun an entscheiden: Stimmt er dieser menschenverachtenden Therapie zu oder wagt er, seine Familie, sein Umfeld und den Gott, an den er einst selber glaubte, gegebenenfalls aufzugeben? Soll er sein äußeres Leben auslöschen oder sein inneres? Sicherlich keine einfache Entscheidung für jemanden, der religiös verwurzelt ist.
Obwohl das, was Conley, der heute in New York lebt, schreibt, teils schwerverdaulicher Tobak ist – von Konversionstherapien, über Suizidgedanken, Mobbing bis hin zu einer Vergewaltigung – droht sein Buch jedoch niemals melodramatisch oder auf Mitleid pochend zu werden, sondern bleibt stets erfrischend, indem es mit einem lachendem Auge vorgetragen wird. Das ist die Kunst, die es lesenswert macht und die die drastische Realität umso grotesker werden lässt.
Schließlich entscheidet sich Conley für die Menschlichkeit. „Auch wenn das ein bisschen kitschig klingt,“ wie er lachend zugibt. Tatsächlich hat sich die Filmszene auf den hochbrisanten Stoff gestürzt und einen millionenschweren Film mit hochkarätiger Besetzung daraus entwickelt. Das klingt jetzt etwas amerikanisch. Ob es politisches Kalkül ist, ist nicht ganz klar. Nicole Kidman spielt darin seine gutaussehende Mutter, Russell Crowe seinen Vater und Baptistenprediger, Lucas Hedges ihn selbst. In diesem Herbst soll der von Schauspieler/Regisseur Joel Edgerton realisierte und adaptierte Film in den Kinos gezeigt werden. Hollywood hin oder her – zumindest gerät so ein Thema an die Öffentlichkeit, das leider noch immer aktuell ist.
Garrard Conley: Boy Erased – Autobiografische Erzählung | Dt. von André Hansen | Secession Verlag | 330 S. | 25 €
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