Bulgarien, ein Maitag im Jahr 1971: Eine neue Verfassung tritt in Kraft. Benannt wird sie nach Todor Schiwkow, einem kommunistischen Politiker mit loyaler Haltung gegenüber der UdSSR. Die Verfassung gibt unter anderem vor, das Präsidium durch einen Staatsrat zu ersetzen, und Vorsitz ist: Schiwkow. Weiter wird sich gegen ein Prozess des Kulturwandels entschieden: Menschen, wie etwa die Pomaken, einer muslimische Ethnie angehörend, gelten fortan als „Bürger nichtbulgarischer Herkunft“.
Flucht ist ein Menschenschicksal. Ilija Trojanow erlebt es. In jenem Jahr flieht er als Sechsjähriger mit seiner Familie mit einer kurzen Epoche in Deutschland nach Kenia. Der heute in Wien lebende Schriftsteller („Weltensammler“) befasst sich immer wieder mit den Themen der Flucht und seiner Heimat Bulgarien.
Wieder ein Maitag: Trojanows „Nach der Flucht“ erscheint. Das Buch trug ursprünglich den Untertitel „Ein autobiografisches Essay“ und stellt mit Trojanow exemplarisch dar, wie sich dieses Schicksal erfährt. Dass sein Duktus ein optimistisches sei und sein Buch sich gegen ein beherrschendes Schicksal, wie es häufig dargestellt wird, wende, erzählt Trojanow seinem Verleger und Lektor Peter Sillem, aber vor allem seinem Publikum an diesem Abend. Das Literaturhaus ist Vorhang-sprengend voll, was durch einen schweißgetränkten Geruch deutlich wird. Das offene Fenster erlaubt einer Dame in rot zumindest durch das Fenster zu lauschen.
Der Mensch und seine Würde
Sillem kommt nicht umhin, ihn als Tausendsassa vorzustellen: Autor, Übersetzer, Publizist, Verleger. Und aber auch Weltensammler und Nomade auf vier Kontinenten.
Alles, um besonders hervorzuheben, dass „Nach der Flucht“ womöglich das erste Buch sei, welches die Folgen der Flucht thematisiert. Trojanow klärt schnell auf, warum auf die Genrebezeichnung verzichtet wurde: „Nur ein Bruchteil des Buches ist überhaupt autobiografisch und nur ein Bruchteil ist essayistisch.“ Lacher auf seiner Seite.
In einem Abschnitt über eine Einschulung heißt es: „Nein, nein, nein, nein wehrt die Lehrerin mit beiden Händen ab, ich habe schon vier Türken in meiner Klasse. Und scheucht Mutter und Sohn davon. Die Treppe hat beim Hinabsteigen mehr Stufen.“
„Nach der Flucht“ besteht aus zwei Teilen, der erste beinhaltet 99 römisch bezifferte Kapitel. In kurzen Sätzen, Aphorismen und Gedanken erzählt Trojanow vom Fremdsein, von Verstörungen, vom Ankommen: „In welcher Sprache träumst du? Kann er nicht sagen. Nicht einmal ob er in Farbe oder Schwarzweiß träumt. Wenn er aber wüsste, in welcher Sprache er einen Orgasmus erlebt, könnte er diese Fragen souverän beantworten.“
Trojanow sei während einer Gastprofessur in New York bei einem Besuch im MOMA auf „The Migration Series“ von Jacob Lawrence gestoßen. Die Bilder zeigen Menschen auf der Flucht – mit Würde. Trojanow finde, Menschen auf der Flucht würden zu Opfern und klein gemacht. Er sei inspiriert worden. Und damit spricht Trojanow in seinem Buch und während des Abends etwas sehr Elementares, gern Ignoriertes, an: Während Flucht schnell als etwas Problematisches gesehen wird, werden Rebellion und Selbstbestimmtheit, die bei einer Flucht die Basis sind, außer Acht gelassen. Die beiden Teile des Buches werden von einem Bild Lawrence’ geteilt.
Die Mutter als größte Kritikerin, wundere sich, dass ihr Ilija so viel von der Flucht mitbekommen habe. „Also Flucht als Geschenk?“, fragt Sillem? „Wärst du lieber im Kommunismus aufgewachsen“ schlagfertigt Trojanow. Dieser fragte sich lange, ob er das das lieber gewesen wäre. Verneint es heute und erteilt seinen Eltern nachträglich die Genehmigung. Das Band wird ihnen gewidmet: „Meinen Eltern, die mich mit der Flucht beschenkten.“
Das Schönheitsmal auf der Sprachhaut
Bevor er zum zweiten Teil des Buches kommt – wieder 99 Kapitel, allerdings rückwärts nummeriert – schenkt er dem Publikum eine der fünf autobiografischen Szenen: Ein staatenloser Student sei am Brenner aus dem Nachtzug geworfen worden, er habe kein Visum für Österreich. Dabei wolle er Österreich nur durchreisen. Keine Chance, die Grenzpolizei zu überzeugen. Doch auf illegale Weise und über Umwege komme er doch noch am Ziel an: „In einem System der Unmenschlichkeit, ist der Verstoß gegen die Gesetze eine humane Maxime.“ Betretenes Schweigen. Lauter Applaus.
Interessant ist, dass Trojanow nicht von einem Ich schreibt, sondern von einem Er. Autobiografisches wird verwandelt, ein Umschreiben des Ichs durch eine Distanz zu seiner eigenen Person. Der Autor hat entschieden, von sich weg zu schreiben und macht damit seine Erfahrungen erfahrbar.
„Von den Errettungen“ ist der zweite Teil. Der kürzeste Satz des Bandes und Einstieg in dieses Kapitel: „Heimatlosigkeit muss nicht falsch sein“, fasst sehr gut den Schwerpunkt zusammen. Wie, dass Heimat als Plural verwendet wird? Wie können wir Heimat als etwas Gleichbleibendes sehen? Es gibt nichts, was immer gleich bleibt. Demnach wäre Heimat etwas Fiktives. Dadurch kann es nicht essentiell wichtig sein.
Wer einen Migrationshintergrund hat, dem komme diese Feststellung bekannt vor: „Man hört gar nicht, dass sie von hier sind.“ – „Auch unschuldige Fragen können zersetzen“, weiß Trojanow. Oder auch die vermeintliche Huldigung, dass man akzentfrei spricht. Trojanows Eltern haben einen Akzent, der verunsichere sie. Dabei seien sie die Handschrift der Zunge, das „Schönheitsmal auf der Sprachhaut“, so Trojanow. „Denn sonst klingen wir wie Nachrichtensprecher, Überbringer schlechter Nachrichten.“
Noch poetischer kommt der kurzweilige Abend mit den Worten von Hugo von Sankt Viktor zum Ende: „Wer sein Heimatland liebt, ist ein zarter Anfänger; wem jeder Fleck so viel bedeutet wie der heimische, ist stark; vollkommen ist aber jener, dem die ganze Welt ein fremdes Land ist.“
Ilija Trojanow: Nach der Flucht | Fischer | 128 S. | 15 €
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