Dienstag, 9. Juni: Wie jeden Dienstag stand auch in dieser Woche auf dem Spielplan des OFF Broadway die Präsentation eines Films in der Reihe „Allerweltskino“, die Woche für Woche Filme aus und über den globalen Süden zeigt. Filmemacher Tobias Lindner hatte sich in seinem Film „Orania“ einer ungewöhnlichen Enklave in der südafrikanischen Provinz Nordkap angenommen, die bei den anwesenden Zuschauern für Erstaunen sorgte. Abgeschottet von der Außenwelt lebten dort zum Zeitpunkt der Dreharbeiten im Jahr 2011 ungefähr 800 Buren, die das Land 1990 von der südafrikanischen Regierung abgekauft hatten, um ohne Einflüsse von außen ihre afrikaanische Tradition zu pflegen. Die ausnahmslos weißhäutigen Bewohner Oranias sind die Nachkommen niederländischer und anderer europäischer Siedler, die den afrikanischen Kontinent in der Kolonialzeit unterjochten und sich nach der Auflösung der Apartheid in Südafrika nun als verfolgte Minderheit verstehen. Allzu oft war es in der Vergangenheit vorgekommen, dass die zahlenmäßig überlegenen dunkelhäutigen Farmarbeiter die ehemaligen weißen „Herrschaften“ verdrängt und um ihren Besitz gebracht hatten. In „Orania“ besteht man deswegen nun darauf, für sich selbst zu sorgen, ausschließlich Afrikaans zu sprechen und regelmäßig die Kirche zu besuchen.
Im Anschluss an die Projektion des Films standen dem interessierten Publikum Verena Jain-Warden, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Leibniz Universität Hannover, und der Allerweltskino-Vertreter Rainer Hillrichs von der Universität Bonn für Fragen zur Verfügung. Die beiden widerlegten zunächst die im Film von den Bewohnern Oranias geäußerten Bedenken, Afrikaans würde ohne ihr eigenes Engagement aussterben, schließlich gäbe es in Südafrika auch genügend Dunkelhäutige, die die Sprache sprächen. Orania sei in den vier Jahren seit Drehende ständig gewachsen und beherberge derzeit rund 1100 Buren, die ihren Dorfrat alle fünf Jahre ohne Parteiensystem personengebunden wählten. Jain-Warden teilte hinsichtlich des Orania-Systems einige von den Zuschauern vorgebrachte Einwände: „Die dort geforderte ethnische Reinheit impliziert bereits rassistisches Gedankengut.“ Rainer Hillrichs ergänzte, dass die Oranier – zumindest in der Öffentlichkeit – die kulturelle eher als die „rassische“ Reinheit betonen. Sie würden von sich selbst behaupten, dass sie gewillt seien, auch den ein oder anderen Afrikaans sprechenden Dunkelhäutigen in ihrer Gemeinschaft aufzunehmen.
Orania hat sich in den gut zwanzig Jahren seines Bestehens auch als Auffangbecken für gescheiterte junge Weiße erwiesen, die, finanziell abgebrannt oder mit krimineller Vergangenheit, im streng geregelten Alltag der Buren-Gemeinde eine letzte Chance für sich sehen. Verena Jain-Warden wies bei der Diskussion auf die Tatsache hin, dass die Oranier dem traditionellen afrikaanischen Genderverständnis verhaftet seien. Keine der Frauen durfte Regisseur Tobias Lindner vor der Kamera Fragen beantworten, lediglich als schmückendes Beiwerk am Rande waren sie im Film geduldet. Während Orania in Youtube-Clips nach wie vor um neue Bewohner wirbt und sich als Ort anpreist, in den es sich zu investieren lohnt, ist man sich in der Gemeinde selbst uneins darüber, ob man eine komplette Unabhängigkeit von Südafrika tatsächlich anstrebt. Jain-Warden ist sich indes sicher, dass das dortige Prinzip des Abschottens überholt ist: „Sie verstehen ihre Kultur als etwas Statisches und sind der Meinung, dass sie kaputtgeht, sobald man etwas an ihr verändert.“
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