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Unruhestifter im Leben seines Bruders: Moritz Bleibtreu als Knacki auf Freigang
Foto: corazón international – Gordon Timpen

Für jede Situation im Leben das richtige Lied

01. Dezember 2009

Moritz Bleibtreu über "Soul Kitchen", seine Vorstellungen zum Begriff Heimat und die letzte Kinorolle seiner Mutter - Roter Teppich 12/09

Als Sohn der Schauspieler Monica Bleibtreu und Hans Brenner scheint dem 1971 in München geborenen Wahl-Hamburger das Talent bereits in die Wiege gelegt worden zu sein. Nach ersten Kinderrollen und einer internationalen Schauspielausbildung kam für Moritz Bleibtreu Mitte der 1990er Jahre der Durchbruch mit Filmen wie „Knockin’ On Heaven’s Door“, „Lola rennt“ oder „Das Experiment“. Mittlerweile hat der Mime auch schon unter Regielegenden wie Steven Spielberg („München“) oder Paul Schrader („The Walker“ und „Ein Leben für ein Leben“) vor der Kamera gestanden und wurde u.a. mit dem Silbernen Bären und dem Ernst-Lubitsch-Preis prämiert. In „Soul Kitchen“ spielt er den Griechen Illias, der in seinen Freigängen das Chaos in der Kneipe seines Bruders Zinos zusätzlich potenziert.

choices: Herr Bleibtreu, der Anfang von „Soul Kitchen“ erinnerte mich sehr stark an Tarantino. Würden Sie Fatih Akin auch als einen Filmbesessenen beschreiben, der aus seinem Fundus des Filmwissens schöpft?
Moritz Bleibtreu: Nein, ich finde den Vergleich nicht so passend. Quentin ist ein Filmnerd in jeder Hinsicht, jemand der den großen Drang verspürt, die unterschiedlichsten Genres auszuprobieren, zu kolportieren, umzudrehen und neu zu erfinden. Tarantino ist wirklich ein Filmbesessener. Fatih ist da dem Leben wesentlich zugewandter, er zieht seine Ideen aus dem wahren Leben. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem Gefühl, was bei Tarantino ja überhaupt nicht der Fall ist. Der ist ja kein emotionaler, sondern eher ein kopflastiger Filmemacher, aber auf die geilste Art und Weise. Fatih ist das genaue Gegenteil, bei ihm kommen die Entscheidungen nicht aus dem Kopf, sondern immer aus dem Bauch, immer aus dem Gefühl heraus. Alles andere ordnet sich dem dann unter.

Der Begriff „Heimat“ ist im Film sehr wichtig – wo ist denn für Sie Heimat?
Heimat ist für mich Hamburg. Heimat ist für mich immer da, wo man die Leute hat, die man liebt und wo man sich geliebt und aufgehoben fühlt. Heimat bindet sich für mich nicht so sehr an einen Ort. Was ich aber vor allem an dem Begriff „Heimatfilm“ bei „Soul Kitchen“ so super und außergewöhnlich finde, ist, dass er von einem jungen Türken definiert wird! Das deutsche Kino macht seit den letzten fünfzehn Jahren ja nichts anderes mehr als Vergangenheitsbewältigung, sprich: die verlorene kulturelle Identität wiederzuerlangen, mit allen möglichen Mitteln und Höhen und Tiefen, und dann kommt da so ein Türke aus Ottensen und fragt: „Was wollt ihr denn eigentlich alle? Heimat ist doch hier, hier ist doch alles. Das ist mein Heimatfilm.“ Und das ist toll, weil Fatih sich durch die Doppelidentität, die jedes Immigrantenkind hat, die Fragen nie stellen musste, die sich viele Deutsche von Anfang an stellen mussten: „Was ist es überhaupt, deutsch zu sein? Worauf kann ich stolz sein, worauf darf ich stolz sein? Darf ich überhaupt stolz sein, was ist Nationalstolz?“ Für Immigrationskinder war sowieso klar, dass sie eine gespaltene Identität haben. Da ist es wahrscheinlich viel einfacher, einen Heimatbegriff für sich zu etablieren, als es für einen Deutschen ist.

Es gibt im Film das sehr schöne Zitat „Musik ist Essen für die Seele“. Was wäre für Sie die Seelennahrung, welche Art von Musik?
Alles – Soundtrack of your life. Das ist ja das Tolle an Musik: Du hast für jede Gefühlsstimmung die entsprechende Musik. Es gibt für jede Situation im Leben eine Musik. Entweder, sie verstärkt das jeweilige Gefühl oder sie hebt das jeweilige Gefühl auf. Du kannst traurig sein und Lieder hören, und du wirst noch viel trauriger, aber vielleicht ist das richtig in diesem Moment. Oder du bist sehr traurig, hörst ein Lied und vielleicht hellt sich dann dein Gemüt wieder auf. Andersrum genauso. Es gibt für jede Situation im Leben das richtige Lied, und Musik ist wie ein Katalysator im Leben. Sie macht irgendwie alles größer und wertet alles auf und untermalt alles. Für mich wäre ein Leben ohne Musik schwer vorstellbar, es wäre verdammt leise ohne Musik.

Leider ist „Soul Kitchen“ ja nun auch zum letzten Film Ihrer Mutter Monica Bleibtreu geworden. War es von Anfang an vorgesehen, oder wurde das dann erst angepasst, dass ihre Figur im Film auch stirbt?
Nein, das war von Anfang an so geschrieben. Das wäre ansonsten ja auch nicht so einfach gewesen, denn die gesamte Erzählstruktur im letzten Drittel hängt ja auch davon ab, dass sie stirbt. Nein, das war schon klar. Sie ist kurz nach den Dreharbeiten gestorben. Das Leben eines Schauspielers ist immer sehr offen für diese Art von Doppelungen oder für solch gemeine Gefühlschaossituationen. Jeder Schauspieler hat es sicherlich schon einmal erlebt, dass sich etwas ganz Schlimmes in seinem Leben ereignete, und dann steht man abends auf der Bühne und muss ein Lustspiel geben. Der Beruf kann schon sehr, sehr skrupellos sein, und das war er eben in diesem Fall auch.

Gerade die Beerdigungsszene, die im Film für Lacher herhalten muss, erhält natürlich vor den realen Hintergründen einen anderen Geschmack. Solch eine Szene schaut man sich dann doch mit ganz anderen Augen an…
Ja, natürlich, klar. Beziehungsweise, ich schaue mir das gar nicht an. Natürlich erzählt die Szene nun etwas anderes, denn die meisten Leute wissen ja, dass meine Mama leider nicht mehr da ist, und vielleicht nimmt das nun den Lacher an dieser Stelle einfach ein bisschen weg, aber vielleicht ist das auch gar nicht schlecht, es ist eben so, wie es ist. Es hat sich nie die Frage gestellt, diese Szene zu ändern oder sie komplett herauszunehmen. Das ist eben eine dieser Skrupellosigkeiten dieses Berufs, aber da muss man einfach durch.

FRANK BRENNER

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