Worin besteht Deutschlands Beitrag zur Tanzkunst des 20. Jahrhunderts? Im Ausdruckstanz und im Tanztheater. Letzteres ist ohne das Werk von Pina Bausch nicht denkbar, die am 30. Juni mit 68 Jahren starb. Pina Bausch hat das Tanztheater als eine Art zu denken und wahrzunehmen entwickelt. Den Körper verstand sie als Erkenntnisinstrument, als Medium, mit dem der Zustand unserer Epoche dargestellt und die Kluft zwischen Männern und Frauen vermessen werden konnte. So hat sie uns in Choreographien wie „Blaubart“, „Café Müller“, „Kontakthof“, „Nelken“ oder „Palermo, Palermo“ die Gegenwart auf eine Weise gespiegelt, die uns empfänglich für die Oberfläche des Lebens machte, an der – wie sie wusste – die Angelegenheiten des Herzens verhandelt werden.
Warum war das, was wir dort auf der Bühne in Wuppertal sahen, so erotisch? Weil bei Pina Bausch nie in den Himmel hinein getanzt wurde und der Körper in seiner Trägheit immer präsent blieb. Realität wurde nicht weggetanzt, sondern ausgestellt. Der Körper als das Medium, in dem sich unsere Existenz realisiert. Mit ihm lässt sich etwas über unser Denken und Fühlen sagen, das kein Text und kein Bild so präzise zu sagen vermag. Schon alleine dadurch, dass sie uns das mit jeder Produktion wieder vor Augen geführt hat, gab sie uns eine Vorstellung von dem, was die Kunst des Tanzes – deren analytische Seite im Konzert der Künste gerne unterschätzt wird – für ein großes, noch zu entdeckendes Instrumentarium in sich birgt.
Sie vermochte etwas zu formulieren, das wir zwar fühlten, aber uns erst dadurch, dass sie es ins Bild setzte, auch bewusst werden konnte und so ein Teil unseres eigenen Lebens wurde. Man nennt diesen Zustand auch Lust, wenn Bewusstsein und körperliches Ereignis miteinander verschmelzen. Und mit Lust hatte das, was im Zentrum von Wuppertal erarbeitet wurde und bald schon in der ganzen Welt aufhorchen ließ, immer zu tun. Mag sein, dass die großen Entwürfe, wie sie ihr in den ersten 20 Jahren als Choreographin gelangen, in den letzten Jahren nicht mehr möglich waren, und dennoch gab es immer wieder Momente in ihren Inszenierungen, in denen man glaubte, gleich bleibt einem das Herz stehen, weil man etwas gesehen hatte, das man nie vergessen würde. In Wuppertal konnte man noch wahre Abenteuer erleben.
Das fiel den Menschen oft schlagartig mit dem Ende der Vorstellung auf und trieb so manchem Tränen in die Augen. Nirgendwo habe ich so wuchtig jenen Moment erlebt, in dem sich Publikum und Künstler gegenseitig Respekt, Dankbarkeit und Ernst nach einer Aufführung zollen, wie in Wuppertal, wenn die Besucher mit einer einzigen Bewegung zur Standing Ovation anhoben, um mit ihrem anhaltenden Applaus – der oft über eine Viertelstunde und länger währte – etwas von dem zurückzugeben versuchten, was sie zuvor bekommen hatten.
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