choices: Frau Schneider, Digitalisierung verändert Kommunikation und Beziehungen. Müssen wir besorgt sein um Freundschaft?
Anna Schneider: Das kommt drauf an. Es scheint sehr tief in uns verankert zu sein, dass wir Menschen in unserem Leben wissen möchten, mit denen wir schöne aber auch gerade schwere Momente gemeinsam durchleben können. Deswegen bezeichnet man den Menschen ja auch manchmal als ultrasoziales Wesen; weil wir immer schon in Verbänden gelebt haben, die uns Halt und Unterstützung im Leben geben. Im Durchschnitt haben wir – je nach Studie – 3,3 bis 4,1 enge Freunde, denen wir im Schnitt vierzig Prozent unserer freien Zeit schenken. Dazu kommen um die 12 Personen im erweiterten Freundeskreis und bis zu 50 Bekannte. Diese Zahlen scheinen sich trotz Social Media nicht grundlegend verändert zu haben, was zeigt, dass es weiterhin eine große Bereitschaft gibt, sich für Freund:innen die nötige Zeit zu nehmen. Die Definition davon, was Freundschaft ausmacht, bleibt ebenso unverändert. Was sich verändert, ist jedoch die Art und Weise, in der ich Freundschaften gewinne, pflege und manchmal auch woran sie zerbrechen. Man kann also sagen: Digitale Kommunikationsformen sind eine neue soziale Spielwiese um die gleichgebliebenen menschlichen Grundbedürfnisse zu bedienen, was jedoch auch neue Herausforderungen mit sich bringt.
„Wenn ich jemanden mag, bin ich wahrscheinlich bereit, einen anderen Kommunikationsweg zu finden“
Auf Social Media liegt ein großer Fokus auf schönen Momenten. Wie wirkt sich das auf unsere Beziehungen aus?
Es gibt in der Psychologie verschiedene Phasenmodelle dazu, wie sich Beziehungen bzw. Freundschaften entwickeln. Hier sind beispielsweise die Modelle von Knapp oder Altman und Taylor aus den 70er Jahren zu nennen. Derartige Theorien gehen davon aus, dass freundschaftliche Beziehungen mit einer Art Orientierungsphase beginnen, in der wir versuchen, uns für die andere Person möglichst interessant zu machen und noch nicht allzu freigiebig mit intimen Informationen sind. Gerade in dieser Anfangsphase, in der man schaut, ob die andere Person für einen als Freund:in in Frage kommt, wirkt es tatsächlich eher irritierend, wenn jemand auf die Frage „Wie geht es dir?“ zum Beispiel mit „Ganz schrecklich!“ antwortet – selbst, wenn das der Wahrheit entspricht. Darauf folgen die explorative und die affektive Phase, in denen ich mich meinem Gegenüber immer mehr öffne und auch meine Zuneigung offener zeige. Zuletzt beschreibt das Modell die stabile Phase, in der man sich ehrlich von seinen Problemen erzählt und dann auch damit rechnen kann, von der anderen Person unterstützt zu werden. Auf Social Media bestehen nun mehrere Möglichkeiten: Bei „alten“ Bekannten dienen digitale Kommunikationskanäle eher zur Pflege der Beziehung, hier ist die Kennenlernphase bereits überwunden. Aber es gibt natürlich auch Menschen, denen ich erstmal primär online begegne. Und auch aus diesen Kontakten können Freundschaften entstehen: Laut einer Umfrage von YouGov und dem Sinus-Institut gaben zwar immer noch 62 Prozent der Befragten an, dass Freundschaften nur im echten Leben möglich sind, aber ganze 28 Prozent sagten auch „Nein, das geht genauso gut online!“. Und je jünger die Befragten sind, desto mehr verschiebt sich diese Ansicht. Bei den unter 25-Jährigen sind es nur noch 40 Prozent, die darauf bestehen, dass man echte Freundschaften nur offline führen kann.
„Märchen des Multitaskings “
Was ist mit Menschen, die weniger Zugang zu digitalen Räumen haben, zum Beispiel ältere Menschen?
Hier in Deutschland telefoniert man interessanterweise noch recht viel, obwohl es zahlreiche neuere Kommunikationsformen gibt. Diese „ursprünglichen“ Kommunikationswege sterben also nicht aus. Freundschaft ist auch nicht von der eigentlich präferierten Kommunikationsart abhängig, sondern man findet Mittel und Wege zur Kommunikation. Denn wenn ich jemanden wirklich mag, bin ich sehr wahrscheinlich dazu bereit, einen anderen Kommunikationsweg zu finden als WhatsApp und Co, wenn diese Person diese Plattformen nicht nutzt. Dadurch stellt sich natürlich die Frage, was man dann überhaupt noch Relevantes verpasst, wenn man sich gegen eine bestimmte Plattform entscheidet. Viele der darüber kommunizierten Informationen sind vielleicht gar nicht so relevant, um gut durch den Alltag zu kommen. Und es kann sogar sinnvoll sein, sich ganz gegen ein Medium zu entscheiden – dadurch verschwindet viel Grundrauschen, das mich sonst vielleicht auch überfordert.
Kann mich das Grundrauschen, also die ständige Kommunikationsmöglichkeit, ablenken – beispielsweise vom Freund, der gerade gegenüber sitzt?
Definitiv kann das dazu führen. Unsere Aufmerksamkeitskapazität ist einfach begrenzt, auch wenn das Märchen des Multitaskings uns etwas anderes suggeriert. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf viele Spielfelder gleichzeitig aufteile, bin ich also nirgends mehr hundertprozentig dabei. Gerade wenn ich aus dem Augenwinkel mein Handy aufleuchten sehe, setzt ja oft die Angst ein, etwas Wichtiges zu verpassen. Und dieses Gefühl kann sogar Stress verursachen. Kurzfristig kann ich diese Anspannung dann lösen, indem ich schaue, wer mir da geschrieben hat. Längerfristig ist es aber zum Beispiel sinnvoll, sich feste Zeiten am Tag auszusuchen, in denen man sich gezielt mit einer bestimmten Plattform beschäftigt – und viele Menschen setzen solche Strategien ja bereits von sich aus in ihrem Alltag um. Auch von den Herstellern eingebaute Funktionen für solche „Auszeiten“ können einen dabei unterstützen und reflektieren, dass dies den Verbraucher:innen ein Anliegen ist. Immer mehr Handys und Angebote kommen zum Beispiel mit der Möglichkeit, die eigene Bildschirmzeit zu tracken oder sogar zu begrenzen – und das entgegen dem Interesse der Apphersteller:innen, die eigentlich aktiv versuchen, einen mit ihren Algorithmen möglichst lange auf der jeweiligen Plattform zu halten.
„Sinnvoll, sich feste Zeiten am Tag auszusuchen“
Wie sehr sorgt Sie die Tatsache, dass durch jene Algorithmen Unternehmen Einfluss auf unsere Kommunikation nehmen?
Ich glaube das ist eine sehr große Herausforderung. Nicht nur bei der privaten Kommunikation, sondern gerade auch bei Kommunikationsplattformen wie Twitter, jetzt X. Da stellt sich dann schon die Frage: „Wer wird ausgeschlossen? Wer darf mitspielen?“. Das hat auch gesellschaftliche Folgen. Dieses Machtgefälle zwischen Anbietern und Konsumierenden finde ich ausgesprochen problematisch. Das, was auf Social Media konsumiert wird, macht etwas mit der Wahrnehmung vieler Menschen, die sich dann Fragen stellen wie „Bin ich interessant genug? Bin ich schön, erfolgreich oder beliebt genug? Bin ich es wert, geliebt zu werden?“ Hier wird einem häufig eine völlig falsche Vorstellung des „echten Lebens“ vermittelt. Und das wirkt sich natürlich auch auf die privaten Beziehungen aus.
„Machtgefälle zwischen Anbietern und Konsumierenden“
Soziale Medien bieten eine viel größere Auswahl an möglichen Kontakten. Hat das Einfluss darauf, wie verbindlich wir gegenüber unseren Freund:innen sind?
Wir tendieren dazu, online auch weniger bekannten Personen ungezwungener zu begegnen, als wir das vielleicht aus unserem sonstigen Leben gewöhnt sind – gerade, weil die Schwelle, mit jedermann in Kontakt zu treten, viel niedriger ist. Das weckt natürlich manchmal auch falsche Erwartungen – zum Beispiel in Situationen, in denen ich nur freundlich sein will und daher ein Emoji setze, die andere Person dies aber schon als Freundschaftsangebot auffasst. Das kann Pseudoverbindlichkeiten schaffen, die gar nicht als solche gemeint waren. Trotzdem denke ich auch, dass Ehrlichkeit und Verlässlichkeit in Freundschaften essentiell sein sollten. Das ist und bleibt das stabile Fundament unserer Beziehungen, und Menschen, die sich nicht daran halten, werden von uns ja auch gesellschaftlich reglementiert. Wenn es einfacher wird, gegen diese Grundregeln zu verstoßen, ist das eine Entwicklung, die man in jedem Fall kritisch betrachten sollte.
„Wichtig, sich mal persönlich zu sehen“
Gibt es so etwas wie ein Grundrezept für Freundschaften?
Ich glaube, entscheidend ist es, einander Zeit zu schenken – indem man sich bewusst trifft und dann auch nichts anderes parallel macht. Das erlaubt es mir, der Person aufmerksam zu begegnen. Ich finde das offline einfacher, aber in leicht reduziertem Ausmaß ist es natürlich auch per Videoanruf möglich. Wenn ich die Person mit allen Sinnen wahrnehme, kann ich nachfragen und richtig zuhören – auch gerade dann, wenn es meinem Gegenüber aktuell nicht gut geht. Aber auch man selbst muss sich öffnen können und sich trauen, dem Anderen immer mal wieder ein weiteres Puzzlestück von sich preiszugeben. Ich persönlich finde es am Ende des Tages daher doch auch wichtig, sich mal persönlich zu sehen – und das mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Wenn sowas schnell im Terminkalender untergeht, kann man sich beispielsweise auf einen festen Tag einigen. Beim Umarmen oder auch Zusammenkommen mit „allen Sinnen“ werden auch Glückshormone wie Serotonin ausgeschüttet. Freundschaften, so konnten einige Studien zeigen, machen uns glücklicher und sogar gesünder, weil sie das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduzieren. Und selbst auf unser Stresslevel wirken sie sich positiv aus. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Freund:innen sind wirklich Balsam für die Seele.
DIGITAL UNVERBUNDEN - Aktiv im Thema
ccc.de | Der Chaos Computer Club ist seit über dreißig Jahren ein kritischer Begleiter technisch-sozialer Entwicklungen.
algorithmwatch.org/de | Die Menschenrechtsorganisation Algorithm Watch setzt sich dafür ein, „dass Algorithmen und Künstliche Intelligenz (KI) Gerechtigkeit, Demokratie und Nachhaltigkeit stärken, statt sie zu schwächen“.
digitalcourage.de | Der 1987 gegründete in Bielefeld ansässige Verein Digitalcourage setzt sich für Informationsfreiheit und Datenschutz ein.
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