choices: Herr Rinne, beobachtet man junge Menschen bei der Berufswahl, hat man manchmal das Gefühl, ein überfordertes Kind im Süßwarenladen vor sich zu haben. Ist es heute einfacher oder schwerer als früher, sich für einen Beruf zu entscheiden?
Ulf Rinne: Es istheute sehr viel komplexer, den Weg von der Schule ins Berufsleben zu finden. So zeigen Befragungen von Jugendlichen, dass sie unsicher sind, was ihre Berufswahl anbetrifft. Tatsächlich gibt es hier einen großen Bedarf an Orientierung. Dazu trägt natürlich auch die mediale Berichterstattung der letzten Jahre bei, die die Schlagzeilen dominiert hat. Durch Botschaften wie „Bestimmte Berufe sind nicht mehr sicher und nicht zukunftsfest“ wurde in der öffentlichen Berichterstattung vermittelt: „Ihr müsst euch Gedanken machen, eure Zukunft ist nicht mehr sicher“. Und diese Unsicherheit überträgt sich dann natürlich auf die Jugendlichen.
Ist denn Zukunftssicherheit noch ein Thema? Oder wechselt man heute öfter seinen Beruf, erfindet sich sozusagen immer wieder neu?
Ja, das hat sich geändert, aber schon vor längerer Zeit. Schon in den 90er Jahren wurde diskutiert, dass berufliche Biografien nicht mehr so stabil sind, wie sie das früher waren. Dieser Trend hat sich fortgesetzt. Heute ist klar, dass eine berufliche Erstausbildung häufig nicht mehr durch das gesamte Arbeitsleben tragen wird. Allerdings ist gerade bei jungen Leuten der Wunsch nach Sicherheit besonders ausgeprägt. Das ist ein natürlich ein eklatanter Widerspruch zu vielen medialen Botschaften, der sich nicht leicht auflösen lässt.
„Eine Erstausbildung trägt häufig nicht mehr durch das gesamte Arbeitsleben“
In den 90ern war von der Generation Praktikum die Rede, die sich nach dem Studium unbezahlt hochdienen musste. Heute hat man den Eindruck, Berufsanfänger können sich die Stellen aussuchen.
Erste Anzeichen der Demografie machen sich tatsächlich bemerkbar. Die jüngeren Jahrgänge, die neu in den Arbeitsmarkt eintreten, sind nicht mehr so stark besetzt wie früher. Dadurch ist der Arbeitsmarkt sozusagen „gekippt“: Heute haben wir es mit einem Bewerbermarkt zu tun – und dafür gab es schon vor einigen Jahren erste Anzeichen. Junge Menschen sind gesucht und begehrt. Auf dem Ausbildungsmarkt hatten wir bis vor etwa 15 Jahren noch mehr Bewerber als offene Stellen. Das hat sich verändert. Seitdem gibt es mehr offene Stellen als Auszubildende.
Von „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ als Mahnung an junge Leute kamen wir schnell zu einer vermeintlich verwöhnten Generation Z. Steckt dahinter eine geringe Frustrationstoleranz junger Leute oder kennen sie einfach ihren Wert und sind selbstbewusst?
Ich glaube, das letztere ist der Fall. Ihnen spielt die Demografie in die Karten. Auch frühere Generationen sind mit bestimmen Erwartungen in den Arbeitsmarkt eingetreten, aber heute ist die Verhandlungsposition der jungen Menschen deutlich stärker. Das merken sie recht schnell und das äußert sich auch in einem selbstbewussteren Auftreten. Es spricht sich recht schnell herum, dass man bestimmte Forderungen stellen kann und diese dann auch häufig erfüllt werden.
„Heute haben wir es mit einem Bewerbermarkt zu tun“
Bereitet die Schule hinreichend auf die Berufswahl vor?
Befragungen von jungen Menschen zeigen, dass es einen großen Bedarf an beruflicher Orientierung gibt, sowie an Informationen über verschiedene Bildungswege und Berufe. Das gilt zum Beispiel für das Handwerk, denn über die dortigen Möglichkeiten, Verdienst- und Karrierechancen ist zu wenig bekannt. Auch deshalb ist das Image handwerklicher Berufe viel schlechter als die tatsächliche Lage. Berufsinformationen, insbesondere über Ausbildungsberufe, sollten aber nicht nur an Haupt- und Realschulen in stärkerem Maße vermittelt werden, sondern auch an Gymnasien.
Nach Ihrem Studium und der Promotion war schnell klar, dass Sie sich wissenschaftlich mit dem Arbeitsmarkt beschäftigen. Was reizt Sie daran?
Ich habe Abitur in einer Phase gemacht, als Rekordarbeitslosigkeit in Deutschland herrschte – das hat meinen beruflichen Weg beeinflusst. Und tatsächlich blieb es seitdem spannend: Mitunter wandeln sich die Herausforderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt monatlich, etwa durch unerwartete Krisen oder wirtschaftliche Schocks. Und immer wieder stellt sich dann die Frage, wie bestimmte Maßnahmen wirken. Kern meines Antriebs ist aber wohl letztlich die ungelöste Herausforderung, soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft effektiv zu reduzieren. Ich bin der Auffassung, dass ein funktionierender Arbeitsmarkt hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten kann – und dies motiviert mich jeden Tag aufs Neue, genau dieses Feld zu beforschen.
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