Unvergleichlich stellt sich die Tanzszene Nordrhein-Westfalens innerhalb Deutschlands dar. Es sind nicht alleine die zahlreichen Spielorte im Land, sondern vor allem die Produktionsdichte, mit der man international auftrumpfen kann. Weit über 600 Gastspiele sendet Stefan Hilterhaus, der Leiter von PACT Zollverein in Essen, über die nationalen Grenzen in die Welt hinaus und Bertram Müller vom Tanzhaus Düsseldorf steht ihm nur wenig nach. Eine Entwicklung, die eben auch beim Publikum an Rhein und Ruhr nicht ohne Folgen geblieben ist. Man weiß umzugehen mit neuen, avantgardistischen Produktionen einer Kunstform, die in einer zunehmend digitalisierten Welt mit der unmittelbaren Faszination des Körpers aufwartet.
Die alljährliche Leistungsschau stellt das Festival tanz nrw dar, das in diesem Jahr vom 5. bis 15. Mai in acht Städten (Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Krefeld, Münster, Viersen und Wuppertal) über die Bühnen geht. „Eine dezentrale Struktur hat das Festival und das entspricht auch der Tanz-Landschaft NRWs“, erklärt Hilterhaus. Gleichwohl werden die stolzen Häuser in Essen und Düsseldorf gleich am ersten Wochenende brummen. Dort sind die Premieren, dann geht es in die Provinz nach Köln, Bonn, Krefeld und den anderen Trabanten, die wechselnde Veranstaltungsorte für den Tanz haben, aber keine Häuser. Ob mit dieser Struktur auch dort Festivalatmosphäre aufkommt, mag dahingestellt sein. Selbst das Theater der Welt ist an einem Netzwerk weit voneinander liegender Spielorte gescheitert.
Im Tanzbereich existiert in NRW halt auch eine Zweiklassengesellschaft. Die internationale Szene ist in den beiden großen Häusern zu Gast. Aber versteht man das Festival als Förderinstrument, mit dessen Hilfe NRW-Produktionen einmal um die Tafel der Städte gereicht werden können, dann ist es sicher ein Segen, weil gute Produktionen auch dorthin gelangen, wo nicht alle Tage Sensationen zu erwarten sind. Gleich zur Eröffnung werden über sieben Stunden hinweg Installationen und Performances im Zollverein zu sehen sein. Zum Beispiel die provokante Mütter-Attacke „Me&myMum“ von Samir Akika, bei der auch künstlerische Vorbilder wie Pina Bausch attackiert werden. Silke Z. zeigt dagegen ihr Kammerspiel „Jess trifft Angus“, in dem mit sattem Humor die Welt der alternden Männer dekonstruiert wird. Am 6. und 7. Mai klotzt dann Düsseldorf mit zehn Veranstaltungen. Alexandra Waierstall präsentiert ihr Projekt „Mapping the Wind“, in dem sie die fließenden Rythmen des Windes für die Bühne zu adaptieren versucht. Es geht um Windkarten und die Reflektion von Grenzen in Raum und Zeit. In Wuppertal gastiert die CocoonDance Company mit „Another you“, einem Stück, das mit stilsicherem Blick auf das abgeklärte Verhältnis der Geschlechter schaut. Jeder ist mit der Pflege des eigenen Egos beschäftigt, wie kommt man da zum anderen Ich? Aber gerade die scharf getrennten Aktionen von Mann und Frau auf der Bühne offenbaren eine subtile Erotik.
Starke Bilder offeriert auch die Ben J. Riepe Kompanie in ihrer Produktion „Hundstage“ in Köln. Wo Aggression, Begehren, Schmerz und Eifersucht brodeln, da gibt es auch viel Nähe, ein heißes Thema, das auf der Bühne mit reichlich Wasser heruntergekühlt wird.
Einen Blick in die Abgründe der Freiheit wirft Karel Vanek mit seiner Produktion „Fantom Freedom“. Sein Gastspiel in Bonn stellt sich der Frage, wie die Freiheit ohne Struktur und Ziel zu einer gesichtslosen Chimäre unseres Wunschdenkens wird. Insgesamt touren 20 Produktionen in zehn Tagen durch das Land, so dass NRW einmal so richtig im eigenen Saft seiner Tanzszene schmoren darf.
tanz nrw 11 | 5.-15.5. | Mit Programm in Bonn, Bochum, Düsseldorf, Essen, Köln, Krefeld, Münster, Viersen und Wuppertal | 0221 172 70
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