Anfang September sorgte eine Dokumentation von STRG_F, einem Youtube-Kanal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, für Aufsehen. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen Schmerzmitteln als neues Statussymbol im Hip-Hop und den ansteigenden Zahlen der Schmermittelkonsumenten her. Seit 2017, so die Beobachtung, sind die Verschreibungen des Opioids Tilidin in der Gruppe der 15- bis 20-Jährigen um das Dreißigfache gestiegen. In der gleichen Zeit hat Tilidin eine steile Karriere im Hip-Hop hingelegt. Plötzlich tauchte das Schmerzmittel neben Sportwagen und leichtbekleideten Frauen in den Musikvideos von Gangsta-Rappern wie Capital Bra, Samra oder AK Ausserkontrolle auf. 65 Millionen Klicks haben etwa Capital Bra und Samra mit ihrem Song „Tilidin“ auf Youtube gesammelt. Die Rapper selbst wollten sich dazu nicht äußern. Schon scheint er wieder da zu sein, der böse Hip-Hop als Verführer der Jugend. Doch so einfach ist es nicht.
Medikamentenmissbrauch war in der Popkultur lange kaum ein Thema. Erst im Hip-Hop der 00er Jahre tauchte zum ersten Mal Lean auf, ein Drink bestehend aus verschreibungspflichtigem Hustensaft und Limonade. Seinen Höhepunkt erreichte die Verbindung von Hip-Hop und verschreibungspflichtigen Medikamenten dann im Schicksal des Rappers Lil Peep. Der Rapper war eine untypische Erscheinung für die sonst so vor patriarchalischer Männlichkeit berstende Hip-Hop-Szene. Bunte Haare, dünne Arme und ein volltätowiertes Gesicht waren sein Markenzeichen. Doch nicht nur sein Äußeres war anders. Während im Gangsta-Rap von der eigenen Härte, teuren Autos und dem Leben als Kokain-Dealer erzählt wurde, setzte Lil Peep auch musikalische Kontrapunkte. Er gilt als einer der Wegbereiter des Cloudrap. Auf flächigen Sythie-Beats rappen seine Protagonisten über Depressionen, Trennungsschmerz und dem eigenen, verzweifelten Drogenkonsum. 2017 starb der damals erst 21-Jährige an einer Medikamentenüberdosis.
Drei Jahrzehnte Suchtproblematik
Im gleichen Jahr rief Donald Trump in den USA den Gesundheitsnotstand aus. Die Medikamentensucht hatte sich über die letzten drei Jahrzehnte wie ein Virus durch die amerikanische Gesellschaft gefressen. Hochpotente und schnell abhängig machende Schmerzmittel und Benzodiazepine wurden aggressiv von amerikanischen Pharmakonzernen beworben und für jedes kleinste Wehwehchen verschrieben. Mittlerweile sterben in den USA mehr Leute an Medikamentenmissbrauch als an Heroin und Kokain. In Deutschland ist die Situation zwar bei weitem nicht so dramatisch, trotzdem ist auch hierzulande in den letzten 20 Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Verschreibungen zu beobachten. Schätzungsweise 1,9 Millionen Menschen gelten als abhängig. Im Hip-Hop erhält die sonst oft als „stille Sucht“ bezeichnete Medikamentenproblematik nun ihren künstlerischen Verhandlungsraum. Was sich über drei Jahrzehnte als Suchtproblematik aufgebaut hat, konnte schlicht nicht ewig vor der Popkultur verborgen bleiben.
So kann man Rapper wie Capital Bra und Samra aus guten Gründen Plumpheit vorwerfen. Ihre Musik für schlechte, aber erfolgreiche Kopien aus den USA halten. Man kann sie außerdem dafür kritisieren, wie unreflektiert sie Schmerzmittel in ihren Songs zum Statussymbol erheben. Für das Problem des Medikamentenmissbrauchs gibt es aber andere Verantwortliche. Wie kann es sein, dass 15- bis 20-Jährige so leicht hochpotente Schmerzmittel verschrieben bekommen? Dafür sind noch immer Ärzte und nicht Rapper verantwortlich. Aber auch die haben sich in der STRG_F-Dokumentation nicht geäußert.
Aktiv im Thema
www.leberhilfe.org | Die Deutsche Leberhilfe e. V. versteht sich als Hilfe zur Selbsthilfe für Leberpatienten, deren Erkrankungen u.a. auf Medikamentengebrauch zurückgehen.
correctiv.org/aktuelles/fussballdoping/2020/06/26/die-problematik-duerfte-sich-verschaerfen | Beiträge des Recherche-Kollektivs zum Schmerzmittelmissbrauch im Amateur- und Profifußball.
bergmannsheil.bg-kliniken.de/fileadmin/Dateien/bergmannsheil/files/anaesthesie/schmerz/download/richtiger_umgang_mit_schmerzmitteln_web.pdf | Ausführliche und übersichtliche Patienteninfo der RUB-Klinik über Schmerzmittel.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Oh weh!
Intro – Schmerzbetrug
Ibuprofen wie Smarties
Fatale Folgen bei unreflektiertem Umgang mit Schmerzmitteln – Teil 1: Leitartikel
„Das sind keine ungefährlichen Substanzen“
Schmerzmittelforscher über Schmerzmittel im Hobbysport – Teil 1: Interview
Gymnastik mit Gefühl
Der Verein für Gesundheitssport und Sporttherapie Köln – Teil 1: Lokale Initiativen
„Schmerz hat einen Sinn“
Mediziner über Opioide in Deutschland – Teil 2: Interview
Erste Hilfe beim Einstieg in den Ausstieg
Die Drogenhilfeeinrichtung Kick in Dortmund bietet Betreuung und Konsumräume – Teil 2: Lokale Initiativen
Heillos
Schulmedizin oder Alternativmedizin? Warum nicht einfach „und“ statt „oder“? – Teil 3: Leitartikel
„Naturmedikamente sind nicht harmlos“
Mediziner über Naturheilkunde und Integrative Medizin – Teil 3: Interview
Die unterschätzte Gefahr
Das Blaue Kreuz Wuppertal zeigt Wege aus der Sucht – Teil 3: Lokale Initiativen
Drogenkranke nicht mehr kriminalisiert
25 Gramm Cannabis pro Person sind seit 2001 eine Ordnungswidrigkeit – Europa-Vorbild: Portugal
Aus Sicht des Betroffenen
Was kein Schmerz aushält – Glosse
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 1: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
Schulenbremse
Teil 2: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 3: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
Aus Alt mach Neu
Teil 1: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 2: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf