Das weite Feld der Filmkunst und ihrer erzählerischen Möglichkeiten lediglich mit den konventionellen Methoden gängiger Spielfilm- und der Dokumentationskost zu bestellen, wäre eine Verschwendung, ganz so, als würde man die Aquaristen mit der Vermessung des Meeres betrauen. Dass die gestalterischen Mittel rund ums bewegte Bild auch dieser Tage noch lange nicht erschöpft sind, zeigt sich beim alljährlich stattfindenen Bonner Film- und Medienfestival Videonale, das experimentelle Strömungen der Film- und Videokunst erforscht. Seit fünf Jahren widmet sich auch die Videonale.scope, ein Seitenarm des Festivals, der persönlichen Ehrung von Vordenkern im Grenzbereich von Fakt, Fiktion und Installation, die über drei Tage hinweg mit Retrospektiven gewürdigt werden. In diesem Jahr ehrt man dabei das Schaffen Sharon Lockharts und Kevin Jerome Eversons, das in Form und Inhalt grundverschieden ausfallen mag, jedoch mit vergleichbarem Pioniergeist nach Mitteln und Wegen sucht, das Publikum nicht nur mit Infotainment abzuspeisen, sondern Haltung und Bewusstsein statt bloßem Konsum einzufordern.
So verzichtet Sharon Lockhart, deren Wurzeln in der Fotografie liegen, in ihren Arbeiten auf das kleine Einmaleins gängiger Stilmittel und beschränkt ihre Werke nicht selten auf einzelne Kameraeinstellungen, die für manchmal mehrere Stunden beibehalten werden. Statt den Betrachter mit Montagetricks und selektiver Bildauswahl von eigenen Überzeugungen und Standpunkten überzeugen zu wollen, laden Lockharts Arbeiten zur Meditation ein, bei der es dem Publikum überlassen ist, selbst herauszufinden, was genau sich aus den Einstellungen ziehen ließe. Wenn sie in „Teatro Amazonas“ für 38 Minuten den Blick der Kamera von der Bühne des Opernhauses in Manau auf das Publikum im Saal richtet, mag dies für das auf Kurzweil gepolte Auge zunächst eine Herausforderung sein. Die kontemplative Entschleunigung, in der es dem Betrachter offensteht, ergebnisoffene Neugier für die Geschichte des Hauses und seiner kostspieligen Errichtung im 19. Jahrhundert zu entwickeln, ist in jedem Falle eine lohnende Erfahrung. Auch „Goshogaoka“, eine einstündige Beobachtung einer japanischen Mädchenklasse während einer Turnstunde oder „Lunch Break“, eine auf 84 Minuten ausgedehnte Kamerafahrt entlang pausierender Arbeiter in einer Schiffswerft in Maine, enthalten sich eigener Kommentare. Aller Zwanglosigkeit in ihrer Argumentation zum Trotz wirken Lockharts Arbeiten nie willkürlich. Eine Kameraeinstellung geht bei ihr mit einer künstlerischen Einstellung einher.
Kevin Jerome Eversons Ansatz bleibt indes intuitiver, und so wirken seine Arbeiten oftmals wie aus dem Moment heraus geborene Skizzen und auf 16 Milllimeter gebannte Essays, in denen sich Everson in mal streng-dokumentarischer, mal fiktionalisierter und mal von jedem narrativen Korsett befreiter Form mit der Geschichte, dem Alltag und den Zukunftsaussichten der afroamerikanischen Arbeiterklasse im Süden der USA beschäftigt. Banale Alltagsbeobachtungen werden dabei mit historischem Archivmaterial, Reenactments und eingelesenen Reden zur Bürgerrechtsgeschichte der USA kombiniert. Bild und Ton zerfallen zu separaten, in unterschwelliger Korrespondenz zueinander stehenden Ebenen, die sich aufs Neue zu einem Zeugnis schwarzer Identität im Gegenwartsamerika zusammenfügen. Wenn er in „Ears, Nose and Throat“ die Prozedur eines Besuches beim Hals-Nasen-Ohren-Arztes mit der Erinnerung einer Zeugenaussage eines Totschlags auf offener Straße konterkariert, zeichnet er ein zum Teil beklemmendes Porträt schwarzen Alltags zwischen Kriminalität, Rezession und Hoffnungslosigkeit, ohne dabei den Zeigefinger der Empörung zu erheben.
Auch wenn Everson, der für die Retrospektive seiner Arbeiten vor Ort war, in einer Gesprächsrunde nach einem Block seiner Werke betont, dass am Anfang jeder Arbeit stets ein klares visuelles und erzählerisches Konzept stehe, gibt er doch ebenso freimütig zu, dass kein Plan lang seine Gültigkeit behalte. Während Eversons Arbeiten über weite Strecken einem freischwebenden Jazz zwischen Fakt und Fiktion gleichen und Lockhart durch konzentrierte Auswahl des richtigen Bildausschnittes die Auseinandersetzung mit ihren Themen herausfordert, zwingen beide Künstler den Zuschauer zum Neu-, Um- und Mitdenken, was Film kann und was dem Betrachter an aktiver geistiger Beteiligung zuzutrauen ist.
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