Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
23 24 25 26 27 28 29
30 31 1 2 3 4 5

12.583 Beiträge zu
3.812 Filmen im Forum

Kampf zwischen Gegenwart und Vergangenheit

26. April 2018

Peter Stamm beschreibt, wie man Opfer der eigenen Geschichte werden kann – Textwelten 05/18

Peter Stamm ist ein Autor, der seine Leser immer wieder zu überraschen versteht. Der Schweizer schreibt anders, als man es von deutschsprachigen Autoren unserer Tage gewohnt ist. Eine Kühnheit in der Konstruktion zeichnet ihn ebenso aus wie die Konsequenz, mit der er die Schicksalswege seiner Protagonisten bis an ihr Ende verfolgt. In seinem Roman „Weit über das Land“ beschreibt er, wie jemand plötzlich aus dem Haus geht und seine Familie verlässt. Stamm erzählt, was mit diesem Mann und mit der zurückgelassenen Frau geschieht und fügt die Erzählstränge letztlich mit traumhafter Sicherheit wieder in einem überzeugenden Finale zusammen. Man fühlt sich sicher an der Seite dieses Erzählers, der einem keine halbfertigen Konstrukte zumutet.

Im Gegenteil, wer mit Stamms neuem Roman ans Ende gekommen ist, möchte vorne wieder beginnen, so eigenartig und rätselhaft ist die Geschichte seines Erzählers, der „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ bitter zu spüren bekommt. Der 50-jährige Christoph bemerkt, dass sich die verunglückte Liebesgeschichte, die er vor 20 Jahren erlebt hat, nun mit anderen Protagonisten wieder ereignet. Er nimmt Kontakt mit Lena, einer jungen Schauspielerin auf, die seiner Jugendliebe Magdalena ähnlich ist, und beginnt ihr bei nächtlichen Wanderungen durch Stockholm seine Geschichte zu erzählen. Lassen sich die Bahnen des Schicksals verändern? Das ist die eine Frage, die bis zu Ödipus und Sisyphos zurückreicht. Die andere fragt nach der Authentizität unseres Lebens – wie angenehm ist es, zu sehen, dass die eigene Geschichte von jemand anderem gelebt wird. Stamm gibt dem Ganzen eine zusätzliche literarische Dimension, da Christoph seinen Erfolg als Schriftsteller durch jenes Buch erworben hat, das das Scheitern seiner Liebe dokumentierte. Vielleicht ist die Duplizität der Ereignisse aber auch eine Einbildung?

Der Erfolg von Peter Stamm hat Gründe. Der Schweizer kann mit der Routine eines Amerikaners seine Story entwerfen, ist aber auch mit der hellsichtigen Beobachtungsgabe für die Innerlichkeit einer Person ausgestattet, wie sie gerade deutschsprachigen Erzählern gegeben ist. Christoph und Lena sind unablässig in den gesichtslosen Randbezirken Stockholms unterwegs. So ziellos wie ihre Bewegung scheint sich auch ihre Gefühlswelt zu verstricken. Christoph besitzt in Lenas Ehemann Chris einen jüngeren Doppelgänger. Wird das Leben der Frau nun zwischen den Männern zerrieben? Stamm gelingt hier nicht einfach eine originelle Exposition – die Situation des Doppelgängers ist uns näher, als man zunächst glauben mag. Denn sobald man auf die eigene Vergangenheit zurückschaut, ergeben sich Muster, die eine beklemmende Zwangsläufigkeit des Daseins erkennen lassen. Er erzählt in einer klaren, pointierten Sprache, die Bilder entwirft, sie aber auch wieder hinter sich lässt, ohne in einen Modus raunender Deutung zu verfallen. So gewinnt dieser schlanke Roman jene Offenheit, die Neugierde entfacht, während wir gespannt zuschauen, wie die Gegenwart mit der Vergangenheit ringt.

Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt | S. Fischer Verlag | 156 S. | 20 €

Thomas Linden

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Die leisen und die großen Töne

Lesen Sie dazu auch:

Der Traum vom Debütroman
„Vom Schreiben leben, vom Leben schreiben“ in Köln

Orte der Gastfreundschaft
„Living-Room“ auf der Poetica 10

Mord an der Moldau
„Die Schatten von Prag“ im Literaturhaus Köln

Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24

Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24

Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24

Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24

Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24

Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24

„Keine Angst vor einem Förderantrag!“
Gründungsmitglied André Patten über das zehnjährige Bestehen des Kölner Literaturvereins Land in Sicht – Interview 10/24

Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24

Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24

Literatur.

HINWEIS