Stefanie Magh hat Bücher Weyer vor drei Jahren von ihrer Chefin übernommen und profitiert am Höninger Weg 181, mitten in der wichtigsten Einkaufsstraße von Köln-Zollstock, von viel Laufkundschaft. Während draußen fast 40 Grad herrschen, empfiehlt sie ein „sehr gut geschriebenes Buch“ von Regina Scheer, „Gott wohnt in Wedding“ (Penguin, 24 €), das einem die deutsche Geschichte „auf andere Weise“ klarmache. „Ich persönlich mag Familiengeschichten mit einer Einbettung in Geschichte. Im ehemals roten Wedding in Berlin steht ein altes Mietshaus. Es erzählt in manchen Kapiteln aus seiner Baugeschichte und aus der Geschichte seiner Bewohner, und in den anderen Kapiteln erzählen die unterschiedlichen Bewohner von der Mitte des Jahrhunderts bis heute, was sie erlebt haben und wie sie Geschichte erleben. Heute sind es die Ärmsten der Armen, die halblegal in dem Haus wohnen, weil es schon dreimal von Miethaien aufgekauft wurde, abgerissen werden sollte und wie das halt so ist im Städtebau heute. Die Geschichten hängen aber zusammen, denn es gibt eine uralte Bewohnerin, die im Prinzip das ganze Jahrhundert in dem Haus erlebt hat.“
Auch Stefanie Magh beobachtet Veränderungen, nicht zuletzt vor der eigenen Tür. Nun wohnten in Zollstock vermehrt Familien und durch die Medienhochschule HKMV mehr Studenten, und der 25 Jahre alte Laden habe sich mit verändert. Das aktuelle, begrenzte Sortiment – lieber frisch bestellen als in Büchern ertrinken – richte sich an ein „normales Lesepublikum“, man verkaufe viele Krimis und Belletristik, außerdem habe man viele Kinder- und Jugendbücher im Angebot, Kochbücher und Reiseführer oder auch Köln-Bücher. Maghs Buchempfehlungen und die ihrer drei Mitarbeiterinnen liegen mit handschriftlichen Vermerken am Eingang und finden sich auch zweimal im Jahr in einer eigenen Broschüre. Die Buchhandlung präsentiert am 19. September eine Premierenlesung des kommenden Romans „Porzellankind“ der Kölner Krimiautorin Myriane Angelowski.
Seit in der langen Severinsstraße „Der Büchermann“ 2015 zumachte, hält dort nur noch die Maternus-Buchhandlung die Stellung, ein tiefer zweistöckiger Laden mit den Schwerpunkten Literatur, Sachbuch und Kinderbuch. Gegründet wurde er 1945, ein Umzug in die Severinstraße erfolgte 1988, zuletzt gab es 2011 einen Umbau. Gerrit Völker, als „Sortimenter“ verantwortlich für die inhaltliche Ausrichtung, empfiehlt uns den Angolaner José Eduardo Agualusa und dessen im Februar auf Deutsch erschienenen Roman „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“ (C.H. Beck, 22 €).
„Wenn man, so wie ich, gerne literarische Entdeckungen macht jenseits der mitunter etwas blutarmen deutschsprachigen feuilletonistischen Gefälligkeitsliteratur – die allzu oft die Preise und Aufmerksamkeit einheimst – dann lohnt sich unbedingt ein Blick auf die afrikanische Gegenwartsliteratur.“ Eine Besonderheit von Agualusa ist allerdings, dass er portugiesische und brasilianische Wurzeln hat.
Der Roman, so Gerrit Völker, fange „die Schwellensituation angolanischer Gegenwart zwischen Bürgerkriegsgeschichte und Aufbruch ungemein geistreich ein. Als Kunstgriff erweist sich dabei sein Verfahren, die Handlung aus den Figuren, aus ihren Vergangenheiten und ihrem Aufeinandertreffen in der Gegenwart heraus zu entwickeln. Überhaupt kann Agualusa wie nur wenige Autoren derzeit Figuren skizzieren, die plastisch und, auch in ihrer Widersprüchlichkeit, im Romangefüge kohärent sind.“ Die Hauptfigur Daniel Benchimol etwa sei „ein kritisch-politischer Journalist, der von einer schönen Frau träumt, die sich zu seiner Überraschung als die reale südafrikanische Künstlerin Moira entpuppt. Die beiden lernen sich kennen.“
„Es ist faszinierend und bewundernswert“, so Völker, „mit welcher Poesie und welch leichter Feder Agualusa mit seiner ‚Gesellschaft‘ komplexe Fragen nach menschlichem Miteinander und zeitlichen Kontexten unserer Gegenwart verhandelt, ohne ins Diskurshafte abzugleiten. Die Träume sind hier nicht nur wundervolle fantastische Einlassungen in die Wirklichkeit, sondern sie stehen als mögliche Zukunft in Relation zu unserer jeweiligen Gegenwart.“ Agualusas andere lieferbare Romane seien ebenfalls grandios: „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ und „Das Lachen des Geckos“.
Die Mitarbeiterin Birgit Matthias-Blachos empfiehlt „Frühling in Utrecht“ von Julia Trompeter (Schöffling & Co., 22 €), die während der Literaturnacht in der Buchhandlung zu Gast gewesen ist. „Freiheit aushalten, selber seinen Platz finden – in der Welt, mit sich und in sich – dies sind die großen, grundlegenden Themen und Fragen, die verhandelt werden in diesem klugen und humorvollen Roman“, erklärt die Buchhändlerin. „Die Protagonistin Klara ist unglücklich mit ihrem Leben und sehr verzweifelt; sie verlässt Berlin, wo sie mit ihrem ungeliebten Freund Hauke eine Kneipe betrieb. Ihre Flucht führt sie zufällig nach Utrecht in Holland, wo sie einen radikalen Neubeginn wagt. Fliehen, das machen eigentlich die anderen, die Millionen Armen, vom Krieg Bedrohten. Und doch – man kann auch satt sein und sich trotzdem zur Flucht aus dem bisherigen Leben gedrängt sehen. Einfach gehen, in den Zug steigen, irgendwo aussteigen, nachdenken, weinen, lachen, erkennen...“
„Das Leben in Utrecht ist jedoch anders als erwartet“, fährt Birgit Matthias-Blachos fort. „Eine wichtige Rolle für Klaras Neuanfang spielt ihre Zuneigung zum jungen Thijs. Dieser ist nicht nur klug und gebildet, sondern auch groß, gut aussehend, deutlich jünger als Klara, die beiden werden ein Paar. Diese Begegnung sowie die eingestreuten Reflexionen und Literaturverweise, die die innere Entwicklung und Wandlung Klaras flankierend begleiten, hätten schnell ins Triviale oder Klischierte driften können. Doch nicht bei der wunderbaren Autorin Julia Trompeter, die Klaras überspannte Intellektualität immer wieder wohltuend bricht.“
Die Buchhandlung präsentiert am 19. September eine Premierenlesung mit Annette Wieners, die ihren historischen Köln-Roman „Das Mädchen aus der Severinsstraße“ vorstellt.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Archiv des Verschwundenen
Piuk und Schneider lesen in Köln
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Um die Wette dichten
Best of Poetry Slam am Comedia Theater
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Massenhaft Meisterschaft
Neue Comics von alten Hasen – ComicKultur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24