Die erste Kölner Literaturnacht am 4. Mai bot Raum – im Kleinen und im Großen. Buchhändler öffneten ihre Türen, Autoren ihre Bücher und Besucher ihre Ohren. Literatur wurde erlebbar. Wenn „Literatur eine Form des Dialogs zwischen Schreibenden und Lesenden ist“, wie Gunther Geltinger es in der „FuckUp-Night“ im Weltempfänger beschreibt, so könnte man behaupten, dass die Literaturnacht noch einen Schritt weiter ging. Es ging nicht nur darum veröffentlichte, geprüfte Texte wie etwa bei einer Autorenlesung zu präsentieren, sondern die Literaturszene in Köln auszuleuchten und zu zeigen: Wo arbeiten die Autoren? Wie arbeiten sie? Und was bedeutet es Literatur zu schaffen?
Aus der unmöglichen Vielzahl an Veranstaltungen habe ich mir genau die ausgesucht, die den mutigen Schritt wagen, den Zwischenraum von Autoren und Autorinnen und ihren Veröffentlichungen zu zeigen. Erste Station ist für mich die „Prosa-Peepshow“ im Schreibraum. Hier trifft sich das „literarische Sextett“, um einander Textskizzen zu präsentieren und im Austausch untereinander und mit den anwesenden Zuhörenden Feedback im Prozess zu bekommen. Sandra Doedter, selbst Autorin, schlüpft in die Rolle der Moderatorin. Das Publikum, das sich in zwei kleinen Reihen vor der Arbeitsrunde der Autor*innen aufgereiht hat und auf sie durch ein Loch in der Wand wie auf eine Theatervorstellung schaut, spricht sie ganz selbstverständlich mit „du” an und es entsteht direkt eine kollegiale Atmosphäre. Die Autor*innen trinken Whiskey und essen Erdnüsse.
Die Schriftstellerin Bettina Janis stellt aus ihrer Erzählung das Ende zur Diskussion, bevor Nicol Goudarzi mit einem Haibun aus der besser bekannten Haiku-Familie „ein bisschen Lyrik in die Peepshow schmuggelt“, wie sie sagt. Ein Haibun überzeugt durch seine Schlichtheit und Übersichtlichkeit. „Es klingt erstmal ganz leicht, und wenn es gelingt, sieht es sehr leicht aus. Aber wer sich etwas damit auskennt, weiß wie schwierig das ist“, antwortet Goudarzi auf die Frage der Entstehung. Die Schwierigkeiten im Werkstattgespräch zur Sprache zu bringen, macht den Abend so interessant. Die Autoren bieten nicht nur in ihre Texte Einblicke, sondern auch in ihre Intentionen und ihre Zweifel. Immer wieder geht es um die Frage der Perspektive. In ihrer Arbeit an einem auf persönlichen Erlebnissen basierenden Roman beschreibt Laura Geyer die Erfahrung, wie aus einer journalistischen Herangehensweise eine literarische geworden ist: „Ich wollte eingreifen und mit meiner eigenen Perspektive die Figuren gestalten.“
Sechs Busstationen weiter liest die Kölner Autorin Husch Josten den eigens für die Literaturnacht geschriebenen, unveröffentlichten Text „Hold On I’m Coming“ in der Buchhandlung Goltsteinstraße. Jazz-Pianist und Professor Alexander Paeffgen unterlegt und kommentiert die Lesung mit Jazzplatten. Auch hier gibt es Alkohol – jeder Besucher bekommt auf Wunsch ein Kölsch in die Hand. Ich muss aufpassen, mich nicht zu sehr fallen zu lassen und beobachtend zu bleiben. Farbiges Partylicht streift über die Bücherregale, an der Decke tanzen Projektionen aus schwarz-weißen Jazzvideos. Die Buchhandlung auf der Ecke scheint heute nicht richtig in die Straße zu gehören. Trotz Nieselregen und kaltem Wind sind viele Zuhörer mit dem Fahrrad gekommen. Die Stimmung bewegt sich irgendwo zwischen Gemütlichkeit, erwartungsvoller Anspannung und Washington-Nostalgie. Es ist nicht schwer sich von Husch Jostens tiefer, ausdrucksstarker Stimme einnehmen zu lassen. Die Crossover-Referenzen zwischen Text und Platten wie der Song und Namensgeber der Geschichte „Hold On I’m Coming“ von Sam & Dave verleihen der Erzählung Lebendigkeit und Einmaligkeit. Josten und Paeffgen fordern in dem Format den Gedanken heraus, dass sich Literatur dem Verfliegen entziehen will.
Noch mit Soul im Ohr fahre ich mit der 17 und der 4 einmal quer durch die Stadt und schlüpfe gerade rechtzeitig zum Start der „Fuckup Night“ durch die Tür des Hostels Weltempfänger. Es ist rappelvoll. Jeder Platz ist belegt, jede Idee eines improvisierten Platzes schon gedacht. Yannic Han Biao Federer sitzt schon bereit, um Gunther Geltinger nach seinem „Fuckup“ auszufragen. Das Format kommt aus Mexiko-Stadt, erklärt Federer.
Eigentlich für Unternehmer konzipiert, die einander von ihrem Scheitern zu Unterhaltungs-, aber auch zu produktiven Zwecken berichten, wird das Format hier auf das Schreiben übertragen. „Wir reden über keins der schön in Plastik eingeschweißten Bücher, die [Gunther Geltinger] veröffentlicht hat, sondern über ‚Riss‘, das, erlöst von dem Wunsch Roman zu sein, zum Hörstück wurde.“ Auch diese Veranstaltung lebt von ihrer Einmaligkeit. Nur fünf Exemplare von „Riss“ gibt es heute als CD – und mehr solle es auch nicht geben. Geltinger habe fünf verschiedene Anläufe unternommen. Von einer Langerzählung zum Drehbuch, dann zum Roman, dann zur Live-Performance, sei es schließlich erst als Hörstück „nicht fertig geworden, aber zu sich gekommen“, sagt er. Der Autor versteht „Riss“ nicht als ein Scheitern, vielmehr fügt sich der Text ein in das große Kontinuum des Schreibens, ist ein Punkt im Prozess.
„Er ist Teil meiner Biografie und Bibliografie. Ohne Riss wäre ich nicht zum Erzähler geworden, sondern der Drehbuchautor geblieben, der für das Szenische zu erzählerisch ist.“ Es sei falsch, einen nicht veröffentlichten Text als Scheitern zu betrachten, genauso wie ein veröffentlichter Text nicht ohne ein permanentes Scheitern im Text auskomme. Geltinger beschreibt auch, wie eine Veröffentlichung nicht nur vom Erfolg des Fertigstellen seitens des Autors abhängt, sondern von vielerlei Umständen aufgehalten werden kann. Vielleicht versage der Verlag oder die Zeit sei nicht richtig. „Veröffentlichungen sind nur ein kleiner Teil des Schreibens.“ Auch ungeschriebene Literatur sei Literatur, und oft sei es Zufall, ob sie den Dialog zum Lesenden schafft.
Gelungen ist der Dialog in der Literaturnacht allemal. Er macht auf für eine erweiterte Perspektive auf Literatur, hinterfragt, schaut hinter die Kulissen und verkürzt den Weg zwischen Schreibenden und Lesenden.
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