Wirklich alt geworden ist er nicht, unser good old Jesus. Und womit hat er seine besten Jahre verbracht? Mit nüschte! Oder will mir jemand erzählen, seine revolutionären Gedanken seien auf fruchtbaren Boden gefallen?! Jetzt komm mir bloß keiner mit dem oberschlauen Gedanken, ohne die christliche Lehre sei ein so freiheitliches und menschenfreundliches System wie unsere Demokratie gar nicht denkbar. Zu schlechter Letzt hat sich seine leidenschaftlich-humanistische Doktrin doch bestenfalls als berauschendes Opiat fürs Volk erwiesen, um der sozialen Marktwirtschaft als willfähriger Handlanger und geschmeidiger Fußabtreter zu dienen. Aber vielleicht ist es ja genau diese vermeintliche Liebesmüh von Protest und Aufbegehr sowie – wenn man alt genug wird – das Bewusstwerden des Scheiterns, die unsere strahlende Jugend von sagen-wir-mal 14 bis 40 kenn-, wenn nicht gar auszeichnen.
Gerhard Henschels „Künstlerroman" [HoCa] ist hierfür geradezu Paradebeispiel: Unerschrocken und leidensfähig stürzt sich sein Alter Ego als wandelnde Antithese zum Auslaufmodell der patriarchalischen Gesellschaftsordnung in die Verheißungen der von seiner Freundin (und damit von dem zukünftigen Herrschergeschlecht) propagierten Lebenswandel. Unfreiwillig komisch. / Genauso wie Boris Fishmans „Biograf von Brooklyn" [Blessing]: Hatte er eigentlich alle Bande zu seiner Familie gekappt, sieht er sich plötzlich als Geschichtsklitterer nicht zuletzt seiner eigenen Herkunft und Abstammung. Aber die soziokulturelle Genetik verheißt ein bittersüßes Erbe, das sich nicht verweigern lässt.
Wir sind, was wir sind; ohne Sinn und Verstand, fernab jeglicher Logik. Nur mit schwarzem Humor zu ertragen. Entsprechend frenetisch feuert Sarah Bosetti mit „Mein schönstes Ferienbegräbnis" [Voland & Quist] ein zynisches Feuerwerk ab – auf dem Höllenritt aus einer in allen Belangen vermaledeiten Kindheit und Jugend in die Große Freiheit. / Um am Ende doch nur vor dem persönlichen wie gesellschaftlichen Scherbenhaufen unserer zivilisatorischen Errungenschaften zu stehen. „Eigentlich müssten wir tanzen" [Suhrkamp], stattdessen verabschieden sich in Heinz Helles lakonischem Endzeitszenario die letzten Freunde plus sämtliche scheinheiligen Ideale wie die „Zehn kleinen Negerlein".
Doch damit der Desillusion kein Ende. Auch die letzte (Aus-)Flucht in eine rosige Anderswelt entwickelt sich in Thomas Podhostniks „Der falsche Deutsche" [luftschacht] zu einem verheerenden Frontalzusammenstoß von sozialverkitschtem Kuba und der fremdgepriesenen Freiheit BRD. / Gefährlich, in dieser Gefühlslage Gisela Erlachers Fotobildband „Himmel aus Beton" [Park] zwischen die Finger zu bekommen. In entrückter Schönheit scheint sich unter den Brücken dieser Welt der Ausstieg aus dem ganzen Hokuspokus tatsächlich leben zu lassen – isoliert betrachtet.
Nur: Mit dem Hunger geht's ja schon los. Kommen dann noch wie in Ali Eskandarians mitreißend irrlichternden „Goldenen Jahre(n)" [Berlin] ein ‚unstillbarer Durst' gepaart mit einem kreativen, stumm aufschreienden Freigeist hinzu, liegt man bereits voll auf der von alkgeschwängerten Sarkasmen geprägten Linie des künstlerischen Genius eines John Waters. „How Much Can You Take?" [Scheidegger&Spiess]: Soll der Tannenbaum doch brennen. Ich kann nur hoffen, dass die heiligen Drei was anderes als Gold, Myrrhe und Weihrauch im Gepäck haben.
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