Man stelle sich vor, die Traviata hätte sich die Schwindsucht nicht Mitte des 19., sondern in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eingefangen. Die Rettung wäre nah gewesen, 1928 entdeckte Alexander Fleming das Penicillin, das erste breit wirkende Antibiotikum. – Doch stimmt das überhaupt? De facto hätte die Traviata nicht viel von Flemings Entdeckung gehabt. Denn bis die ersten Tuberkulosekranken davon profitieren konnten, sollten noch 15 Jahre vergehen. Die Edelkurtisane wäre bei fortgeschrittener Erkrankung auch in den 1920ern wahrscheinlich gestorben. Ein Überleben der tragischen Titelfigur kann außerdem selbst bei einem gewagten Regiekonzept keine ernsthafte Option darstellen.
Also warum, fragt man sich, konstruiert Josef Ernst Köpplinger diesen Zeitsprung? Eine substanzielle Antwort wird seine Inszenierung an der Essener Aalto-Oper schuldig bleiben. Also bleibt am Ende der Eindruck: Hier sollte vor allem ein Anlass für eine dekorative Kulisse gefunden werden. Bühnenbildner Johannes Leiacker baut ein edles Zauberberg-Sanatorium mit Alpen-Kulisse, aus dem heraus die sieche Violetta ihr Leben Revue passieren lässt. Seine These von der nahen potenziellen Rettung für die Kranke demontiert der Regisseur somit schon während der Ouvertüre. Seine Violetta hat ganz offensichtlich bereits mit ihrem Leben abgeschlossen. Und nicht nur die Figur ist (zum Tode) verurteilt, Sopranistin Liana Aleksanyan ist von der Regie auch dazu verdammt, bis zum bitteren Ende in einer unvorteilhaften Kombination aus Pyjama und Morgenmantel auf der Bühne zu stehen. Grund dafür ist nicht zuletzt, dass Köpplinger den Dreiakter in gut 100 Minuten durchspielen lässt – eine gute und konsequente Entscheidung. Die darstellerische Entsprechung ihres Kostüms liefert Aleksanyan indes nicht. Sie wirkt weniger wie eine Leidende als vielmehr seltsam unbeteiligt. In Tenor Felipe Rojas Velozo findet sie einen unrühmlichen Gegenpart. So gern man den beiden zuhört, so uninteressant ist es, sie auf der Bühne zu sehen. Unbeholfen laufen sie nebeneinander her und liefern Rampengesänge. Selbst im Moment des Todes der Violetta bleibt Alfredo auf Abstand. Bei den Protagonisten versagt Köpplingers Personenführung vollständig. Die Figur des Vaters Giorgio Germont macht da keine Ausnahme – obwohl auch Mikael Babajanyan eine ordentliche Partie singt. Er ist ein herzloser Machtmensch. Das ist plausibel, aber nicht spannend.
Köpplingers Stärke sind die Massenszenen, die er mit kleinen Balletteinlagen, einigen splitternackten Statisten und halbnackten Statistinnen würzt. Hier stimmt die Dynamik, Identifikationspunkte aber bleiben aus, die kleineren Rollen gehen gar unter. Im Ganzen bleibt die Inszenierung steif und gestelzt. Musikalisch vermögen die Essener Philharmoniker mit Volker Perplies am Pult und auch ein überzeugender Chor für vieles zu entschädigen. Ergriffen wird man von dieser „Traviata“ leider nicht.
„La Traviata “ I Fr 22.6. 19.30 Uhr I Aalto Theater Essen I 0201 812 22 00
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