Das Filmnetzwerk LaDOC präsentiert am 15.3. Andrea Arnolds Dokumentarfilm „Cow“ (2021) im Filmhaus Köln. Filmemacherin Mirjam Leuze, die in der großartigen Dokumentation „The Whale and the Raven“ (2019) das gefährdete Leben der Wale an Kanadas Küste festhielt, wird im Anschluss an die Vorführung gemeinsam mit ihrer Kollegin Caroline Nokel Arnolds Kamerafrau Magda Kowalcyk interviewen.
Frau Leuze, gibt es zwischen Arnolds Langzeitbeobachtung einer Kuh und Ihrem Film „The Whale and the Raven“ Gemeinsamkeiten bei der Herangehensweise?
Bei der Pressekonferenz zur Weltpremiere des Films auf dem Filmfestival in Cannes sagte Andrea Arnold „Ich wollte ein Individuum zeigen, [...] eine Kuh mit einem eigenen Charakter [...]“ Und genau das erlebe ich in dem Dokumentarfilm „Cow“. Dort begegnen sich zwei Individuen, zwei Lebewesen: Die eine gehört der menschlichen Spezies an, trägt eine Filmkamera und hört auf den Namen Magda, die andere gehört der Spezies der Rinder an, arbeitet auf einem Milchbauernhof nördlich von London und trägt den offiziellen Namen II 29, Rufname Luma. Diese beiden Individuen begegnen sich auf eine sehr tiefe Art und Weise. Die Kamerafrau Magda Kowalczyk hat Luma über vier Jahre bei ihrer Arbeit begleitet: bei der Milchproduktion, beim Grasen auf der Weide, beim Austragen und Gebären von Kälbern. Die Kamera nimmt die Kuh ernst, als Gegenüber mit einer Persönlichkeit und einer Präsenz, begegnet ihr mit Aufmerksamkeit und Respekt.
Auch mich hat beim Drehen von „The Whale and The Raven“ immer wieder die Frage bewegt, wie ich es schaffe, zu vermitteln, dass Wale Individuen sind. Ich wollte erlebbar machen, dass Wale ein Bewusstsein haben, dass sie Wesen mit Selbstwahrnehmung, mit Empathie und Mitgefühl sind und dass sie kulturelle Praktiken an ihre Kinder und Enkel weitergeben. Natürlich funktionierte das in meinem Fall ganz anders als bei Andrea Arnolds Film „Cow“. Mit Walen kann man keine Drehtermine vereinbaren, man weiß nie, wer vorbei schwimmt. Dazu kam, dass in Kanada ein Unterwasser-Drehverbot herrscht, wenn Wale im Wasser sind. Das heißt, die Wahl meiner filmischen Mittel waren ganz andere als bei „Cow“. Ich musste viel über meine menschlichen Protagonist:innen erzählen und den subjektiven Wal- und Raben-Blick mit Unterwasser- und Luftaufnahmen nachvollziehbar machen.
In der Erzählhaltung und Absicht jedoch sehe ich Ähnlichkeiten. Nämlich die Wahrnehmung, dass nicht-menschliche Wesen, gemeinhin Tiere genannt, genau wie Menschen eine Persönlichkeit haben mit individuellen Vorlieben und unterschiedlichen Charakteren.
Arnold bezieht sich in ihrem Directors Statement auf eine Erklärung von Wissenschaftler:innen, die in der sogenannten Cambridge Declaration on Consciousness darauf hinweisen, dass die wissenschaftlichen Beweise für das Bewusstsein bei Tieren nicht mehr zu negieren sind. Die Erklärung stammt von 2012. In der Zwischenzeit ist die Forschung nochmals viel weiter, was Bewusstsein und Persönlichkeit auch bei Nutztieren anbetrifft. So weiß man heute, dass Kühe Freundinnen haben, dass Schweine andere Artgenossen in Not retten und individuelle Charakterzüge haben, und dass Ziegen Symbole in Kategorien ordnen und Porträtfotos anderer Ziegen auseinanderhalten können.
Sobald klar ist, dass der Film nicht von Kommentaren oder einer dauernden Musikuntermalung begleitet werden soll, wird die Arbeit der Kamerafrau oder des Kameramannes umso entscheidender. Kann man das so sagen?
Ja, auf alle Fälle. Die große Herausforderung für die Kamera bei nicht-menschlichen Protagonist:innen ist die Frage, wie sich eine Beziehung und eine gemeinsame Sprache herstellen lässt, wenn linguistisch basierte Sprache nicht zur Verständigung herangezogen werden kann. Was dann bleibt, sind unsere Körper. Dann werden Bewegungen, Blicke und Augenkontakt wichtig, um in Kontakt zu treten. Die Walforscherin Janie Wray, eine meiner Protagonist:innen im Film, hat darüber einen bewegenden Artikel geschrieben: Eye to I.
Meine Erfahrung ist, dass die innere Haltung, mit der ich filme, meine Kamerabewegungen, meine Fokussierung und mein Bewegen im Raum leiten. Die innere Haltung ist ausschlaggebend für die Qualität der Beziehung und damit auch für die Qualität der Kameraarbeit. Trete ich irgendeinem Tier gegenüber oder nehme ich mein Gegenüber als ein Individuum mit Persönlichkeit wahr, dem ich mit Respekt und Achtsamkeit begegne? Und schaffe ich es, mich in die Perspektive meiner Protagonist:innen hineinzuversetzen, ihre Perspektive zu zeigen? Regisseurin Andrea Arnold und ihrer Kamerafrau Magda Kowalzcyk ist das in einer Art und Weise gelungen, wie ich es so noch nie zuvor im Kino gesehen habe. Ihre Kamera geht auf Augenhöhe, geht mit in den Matsch, schaut Luma tief in die Augen und fängt ihre Perspektive ein. Als Zuschauer:in werde ich immersiv, also hörend, sehend, spürend, in die Lebensrealität von Luma hineingezogen.
Aber nicht nur die Kamera spielt bei diesem Film eine wichtige Rolle. Auch das Sound-Design, die Auswahl der Musik und die Montage tragen zu diesem intensiven filmischen Erlebnis bei.
Sowohl bei Arnolds „Cow“ als auch bei Ihrem „The Whale and the Raven“ hat man das Gefühl, dass die Tierdokumentation durch neue Gewichtungen – weniger technische, sondern eher konzeptionelle und empathische – doch noch einmal neu erfunden werden kann. Sehen Sie das auch so?
Ja, in gewisser Weise schon. Ich sehe in Andrea Arnolds Regie und der Kameraarbeit von Magda Kowalczyk ein Ringen um eine sehr körperliche, sensorische Filmsprache, die klassischen Erklär-Tierfilmen diametral gegenübersteht. Was „Cow“ auszeichnet, ist, dass Luma als Protagonistin genauso ernst genommen wird, als wäre sie ein Mensch. Nicht umsonst spricht Arnold von ihrer Protagonistin als einer Arbeiterin in der Milchindustrie. Das heißt, Luma wird als Filmfigur quasi gleichbehandelt wie die menschlichen Heldinnen in Arnolds Spielfilmen. Diese weiblichen Charaktere eint das Thema, in restriktiven Strukturen zu leben und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten dagegen zur Wehr zu setzen. Man könnte also sagen, in Arnolds Filmen geht es um nichtmenschliche und menschliche weibliche Tiere in den Hauptrollen.
Beide Filme sehe ich nicht als Tierdokumentation, sondern als künstlerische Dokumentarfilme. Im Grunde genommen erzählen beide Filme über unsere Beziehung zur Welt und zu unseren nicht-menschlichen Mitgeschöpfen. Andrea Arnold beschreibt das ganz wunderbar in ihrem Directors Statement: „Wir sind Natur. Wir sind Tiere. Die Spitze der Nahrungskette. Aber wir sind immer auch Tiere und wir haben viele tierische Instinkte. Dies zu verleugnen, uns davon zu trennen und abzukoppeln, scheint uns immer mehr zum Verhängnis zu werden. Unsere Beziehung zu den Millionen von nicht-menschlichen Lebewesen, die wir nutzen, ist ein wichtiger Teil unserer Existenz. Ich habe ‚Cow‘ gemacht, um zur Auseinandersetzung damit einzuladen.“
Ich hoffe sehr, dass Andrea Arnolds „Cow“ Inspiration für junge Filmschaffende ist, unser Verhältnis zu nicht-menschlichen Tieren in starken visuellen Geschichten zu hinterfragen, zu überdenken und damit zu einem Paradigmenwechsel in unserem Mensch-Natur-Verhältnis beizutragen.
Infos unter:
https://ladoc.de/dokumentarfilm-cow-werkstattgespraech-mit-bildgestalterin-magda-kowalczyk-gb/
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