Das Kind ist gerade geboren, was kann einen angesichts eines solchen Wunders schon noch erschüttern? Navid Kermani, der Islamgelehrte, gönnt sich nach der Geburt seiner Tochter einen Moment im Kölner Dom. Genauer gesagt, betrachtet er Gerhard Richters Domfenster. Dass der Maler die Komposition der Farbflächen mit einem Klick auf den Zufallsgenerator entschied, leuchtet Kermani bei einer Arbeit für ein Gotteshaus ein. Er erinnert sich an den Streit mit dem Kardinal, an die Begeisterung der Kölner für das Fenster und erklärt uns im Handumdrehen die Unterschiede zwischen einer Kirche - in der die Architektur auf den Altar und das dort einfallende Licht ausgerichtet ist - und einer Moschee. Dort wird das zentrale Moment vermieden, die Kuppeln und Gebetsnischen sind so angeordnet, dass man stets den Blick auf ein Himmelsgewölbe richten kann, in dem kein Punkt an Bedeutung einem anderen zuvorkommt. Insofern gibt Kermani dem Kardinal nicht ganz Unrecht, der meinte, das Fenster von Gerhard Richter sei in einer Moschee besser aufgehoben. Angeblich hat er gemeinsam mit seiner älteren Tochter überlegt, ob man beim Kardinal anfragen sollte, ob er das Fenster nicht vielleicht der Kölner Moschee schenken würde.
Es gibt einige solch humorvoller Momente in Navid Kermanis neuem Buch „Ungläubiges Staunen“, das allerdings vor allem Situationen der Ergriffenheit und Begeisterung über die Inspiration enthält, mit der europäische Künstler christliche Inhalte ins Bild setzen. Dabei beschreitet der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in seinen 40 Bildbetrachtungen konsequent den privaten, alltäglichen Zugang zu dem jeweiligen Kunstwerk. Ein Kind, das Ohrenschmerzen hat und von der Mutter aus seinem Gitterbett in die Arme genommen wird, erlebt für Kermani den kürzesten Weg von der Einsamkeit in die Geborgenheit. Diesen Augenblick findet er „auf dem herrlichsten Bild, das je in Köln gemalt worden ist“ wieder. Stefan Lochners „Maria in der Rosenlaube“ gehört eine seiner Bildbetrachtungen.
In jedem seiner Texte findet der in Siegen geborene und in Köln lebende Schriftsteller und muslimische Gelehrte einen handfesten biographischen Bezug zur Bildwelt der christlichen Kunst. Auf das Fahrrad setzt er sich, um ein paar hundert Meter von seinem Büro entfernt eine Pietá aus dem frühen 15. Jahrhundert in Sankt Kunibert anzuschauen. Die Holzskulptur zeigt eine junge, zutiefst schockierte Maria, die den abgemagerten, gealterten Körper ihres Sohnes auf dem Schoß trägt. Am Körper des Gefolterten sieht man „was Menschen einander antun können, darin kommt eine unüberbietbare Aktualität zum Ausdruck“, meint Kermani. Die spürt er auf andere Weise auch in Giottos Kuss in der Begegnung zwischen Anna und Joachim auf, einer Darstellung, die den Resonanzraum körperlicher Liebe zwischen Menschen reiferen Alters zum Thema hat.
Dass Kermani in seinen Reflexionen über Maria die feministische Theologie leichtfüßig hinter sich lässt und recht überzeugend darüber spekuliert, dass Gott wahrscheinlich mehr weibliche als männliche Züge aufweisen müsste, unterstreicht seinen bildhaft-sinnlichen Umgang mit der christlichen Ikonographie. Die Werkzeuge des Geisteswissenschaftlers werden in diesem Buch mit seinen Texten zu Caravaggio, Dürer, Memling oder Leonardo da Vinci fruchtbar zum Einsatz gebracht. Denn Kermanis Wissen legt die Erkenntnisgehalte der Religionen frei. „Der Reichtum der Religionen liegt in ihren Unterschieden“, erklärt er, „deshalb muss es darum gehen, voneinander zu lernen und nicht, sich die Köpfe einzuschlagen“. Mit seinem Buch holt Kermani die christliche Gedankenwelt und die von ihr inspirierte Kunst wieder unmittelbar in die Gegenwart. Der Glaube spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, deshalb gelingt dem Muslim Kermani genau das Buch, das die Menschen in Mitteleuropa wieder in die Kirchen locken könnte.
Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum | C.H. Beck | 304 S. | 50 Abb. | 24,95 €
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