Das Konzept des literarischen Salons, moderiert von Guy Helminger und Navid Kermani, geht über eine bloße Buchvorstellung hinaus. Neben ihrem jüngsten Text sollen die eingeladenen Autoren auch Texte anderer Schriftsteller und Musik vorstellen. Das Format bietet Spielraum für Überraschungen und Austausch und schafft so eine besondere Atmosphäre. Als am Donnerstag die Sensationsautorin Helene Hegemann zu Gast war, nahm das Gespräch auch für Schriftstellerin und Moderatoren einen interessanten Lauf.
Mit Hund Charlie und Sweatshirtjacke schlendert Helene Hegemann in den Konzertsaal des Stadtgartens. Es läuft „The Edge of Seventeen“ von Stevie Nicks, ein Song der Playlist, die sie für die Lesung zusammenstellen sollte. Das Publikum ist heute bunt gemischt – und zahlreich. Einige lesen noch schnell die ersten Seiten von „Bungalow“, den neuesten Roman der Autorin. Die Stimmung ist entspannt. Statt Bühne gibt es Barhocker und Stehtische. Die drei Autoren duzen sich, erzählen Anekdoten von ihren Patti-Smith-Begegnungen und trinken Wein. Die 26-jährige Schriftstellerin wirkte jung, als sie hereinkam, sobald sie anfängt zu reden, verschwindet dieser Eindruck. Sie ist schlagfertig, erzählt mit einer Klarheit und Schärfe und liest in einem Tempo, das ihre Gastgeber beeindruckt.
Die Moderatoren stellen das Buch vor, ziehen Vergleiche zu „Axolotl Roadkill“, ihrem Debüt-Roman, und versuchen, den Kernthemen auf die Spur zu kommen. Obzwar die Protagonisten ihrer Romane jugendliche Mädchen sind, im „Bungalow“ etwa die 12- und später 17-jährige Charlie, bezeichnet Helene Hegemann diese Texte nicht als Coming-of-Age-Romane. Es seien keine Bücher über Teenager, sondern über „solide Verzweifelte“, deren Haupteigenschaft nicht ihr Alter sei. Ihre Protagonisten seien solche, „die Coming-of-Age-Romane gelesen haben und riesige Angst haben, diesen Charakteren zu entsprechen“. Bewusst entscheidet sich die Autorin gegen das „klassische Ami-Happy-End“, in dem sich die Figuren aus eigener Kraft aus ihrer Misere befreien. „Bungalow“ zeigt Charaktere zwischen 12 und 60 Jahren, die das Gefühl verbindet, sich können nicht aus ihrer Situation „herauskämpfen“ zu können.
Grund dafür scheint auch das Setting zu geben. Guy Helminger und Navid Kermani beschreiben es als „höllenartig“, „abgefuckt“, von einer „Endzeitstimmung“ geprägt. Aus einer dystopischen Zukunft heraus beschreibt die Erzählerin die Gegenwart. Zwischen den Erzählzeiten liege eine Katastrophe, so groß und bedeutsam, dass man sie nicht beim Namen nennen müsse, so Hegemann. Kermani nimmt den Roman als „tieftraurig“ wahr und sagt, er kenne wenige Bücher, die so ernsthaft seien. Als Leser denke man, es gäbe eine Möglichkeit sich zu befreien, die aber niemand ergreife. Es fehle an einem Grundvertrauen zum Leben, das in keinem der Charaktere unabhängig ihrer sozialen Klasse vorhanden sei. Mit der Dualität von Rohheit und Sensibilität ihrer Erzählsprache behandle die Schriftstellerin „die großen Dramen des Lebens“, die den Leser gleichsam schockierten und ergriffen.
„Wir reden nicht immer so viel, du merkst, das Buch löst viel in uns aus“, wirft Kermani ein. Während seiner Analyse lauscht Hegemann neugierig, widerspricht hier und da, versteht ihr eigenes Werk aber nicht als vollkommen, sondern scheint es immer wieder neu zu entdecken. Mit Selbstironie und Selbstkritik rät sie ihren neuen Lesern „Bungalow“ erst auf Seite 47 anzufangen. Eine editorische Entscheidung, über die sie ihre Meinung vor und nach Veröffentlichung stets geändert habe. Auch beim Beschreiben ihrer Charaktere wirkt sie von ihren eigenen Figuren beeindruckt. Als Helminger die kurze Szene beschreibt, in der Charlie im Supermarkt gekaufte Kekse zu Hause in Folie verpackt, um sie den Müttern der anderen Kinder auf dem Spielplatz als ein Gebäck ihrer Mutter zu verkaufen, ergänzt Hegemann: „Das Interessante ist ja, dass sie weiß, dass sie die anderen Mütter nicht trügen kann, und tut es trotzdem.“
Wenn die Moderatoren die Atmosphäre auch als „hoffnungslos“ bezeichnen, kann sie sich nicht mit dieser Beschreibung und dem häufig verwendeten Wort „abgefuckt“ anfreunden. „Hart, aber nicht abgefuckt.“ Sie versteht die Geschichte von Charlie als „Aufsteigergeschichte“. Die Protagonistin sei auf der Jagd nach etwas Bestimmten. Es gebe noch immer Ziele, Wünsche, auch Moral.
Mit 14 das erste Drehbuch, mit 15 das erste Theaterstück, mit 16 der erste Film – Helene Hegemanns Karriere scheint selbst wie eine atemlose Jagd. „Axolotl Roadkill“, das sie später auch verfilmte, wurde als Sensation gefeiert, dann wegen Plagiatsvorwürfen zerrissen. Der Skandal habe aber fast ausschließlich in der Feuilletonblase stattgefunden, die nicht ihre eigene gewesen sei, und sei zudem so überzogen und übersteigert worden, dass er die damals 18-Jährige nicht von ihrem Weg abbringen konnte.
Auch ihr dritter Roman „Bungalow“ ist eine Herausforderung für Leser und Kritiker – das bleibt er auch nach diesem Gespräch. Viele Fragen bleiben offen, viele Rätsel des Bungalows ungelöst. Die Leser bleiben die Interpreten und gehen mit vielen Eindrücken und noch mehr Fragen nach Hause.
Helene Hegemann: Bungalow | Hanser Berlin | 288 S. | 23 €
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