„Das Phänomen, dass Armut nicht ausreichend mit sozialstaatlichen Leistungen und Angeboten bekämpft werden kann, sondern zunehmend mit spendenbasierten Armutshilfen, wirft die Frage danach auf, wie es im Kontext eines ausgebauten Sozialstaats überhaupt so weit kommen konnte.“ Fabian Kessl, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Wuppertal, stellt sich weiter die Frage, wie Menschen mit Armut umgehen und was sie für den Alltag bedeutet.
Die „Mitleidsökonomie“, die sich auf die Entstehung und Ausbreitung von Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und Sozialkaufhäuser bezieht und sich im 21. Jahrhundert als Anzeichen des modernen Wandels des Sozialstaats etabliert hat, nimmt in seiner Forschung einen zentralen Platz ein. Die Frage, inwiefern in Armut lebende Menschen selbstverantwortlich im Alltag unterstützt werden können, führte ihn darauf, dass insbesondere seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr Menschen auf öffentliche und spendenbasierte Angebote angewiesen sind.
Jedes vierte Kind von Armut betroffen
Ein Anhaltspunkt dafür, wie wichtig spendenbasierte Angebote sind, ist selbstverständlich die Nachfrage nach diesen Angeboten. Konkrete Zahlen dazu waren vor fünfzehn Jahren nicht einsehbar, erzählt Kessl. Die Wuppertaler Tafel berichtete 2022 von bis zu tausend Menschen, die täglich allein ihr Angebot nutzen. „Das spiegelt den bundesweiten Trend und bestätigt die Statistik, dass jedes vierte Kind von Armut betroffen ist.“ Kessl spricht von einem wachsenden „Schatten des Sozialstaats“. Menschen, die nicht unterstützt werden oder deren Grundversorgungen nicht ausreichen, die beispielsweise aufgrund von Krankheit, Flucht, Überschuldung durch das Raster fallen, finden sich dort wieder und sind auf spendenbasierte Hilfen angewiesen.
Historisch hat sich daraus ein Problem entwickelt, dass in der Armutsforschung als verfestigte Armutslage bezeichnet wird. Kessl äußert ernste Bedenken: „Fast zehn Prozent der Bevölkerung sind statistisch mit Armut konfrontiert, aus der es mittelfristig kein Entkommen gibt. Ausgegangen sind wir lange Zeit von nur zeitweiligen Armutsphasen während der Ausbildung, des Studiums oder einer kurzfristigen Erwerbslosigkeit. Inzwischen stellen wir fest, dass Menschen durch anhaltende Armut nicht mehr an der Gesellschaft teilhaben können.“
Armutshilfe: ein zivilisatorischer Skandal
Kessl forscht zusammen mit Studierenden und geht hierfür auf Betroffene zu: „Viele Menschen sind sehr bereitwillig, zu erzählen, andere haben keine Kapazitäten, denn entgegen dem Stereotyp, sind Menschen, die in Armut leben, sehr wohl vielbeschäftigt, beispielsweise mit der Organisation ihres Schlafplatzes.“ Menschen, die von Armut betroffen sind, insbesondere Kinder, seien sich sehr bewusst darüber, was Ausschließung bedeutet, so Kessl. Hinzu komme Schamgefühl über die eigene Bedürftigkeit, das durch eine Bedürftigkeitsprüfung an Ausgabestellen noch gefördert werde.
„Dass wir akzeptiert haben, dass Armutshilfen zu unserem Alltag gehören und die Unterstützung von Armutshilfen positiv konnotiert ist, ist ein zivilisatorischer Skandal und darf nicht hingenommen werden.“ Laut Kessl müsse die Verteilungsfrage dringend gestellt werden und auch Wissenschaft und Journalismus sehe er in der Verantwortung, eine kritische öffentliche Debatte über Armut zu führen.
GELD ODER LEBEN - Aktiv im Thema
finanzwende.de | Der in Berlin ansässige Verein Bürgerbewegung Finanzwende will als „unabhängiges und überparteiliches Gegengewicht zur Finanzlobby“ dafür sorgen, „dass die Finanzmärkte wieder den Menschen dienen“.
facing-finance.org | Der in Berlin ansässige Verein Facing Finance will „deutsche und europäische Finanzdienstleister […] sensibilisieren, bei Investitionsentscheidungen völkerrechtliche Verträge, soziale Normen und Umweltstandards umfassender zu berücksichtigen“.
attac.de | Auftritt des deutschen Ablegers der 1998 in Frankreich gegründeten NGO Attac, die Armut, Ungleichheit und Ausbeutung als Folgen einer konzern- und finanzmarktfreundlichen Globalisierung kritisiert.
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