choices: Herr Scholl, Sie haben 2012 das Kartoffelkombinat mitgegründet. Was ist das und wie kam es dazu?
Simon Scholl: Das Kartoffelkombinat ist 2012 die erste genossenschaftlich organisierte Solidarische Landwirtschaft (Solawi) in ganz Deutschland gewesen. Zu einem Zeitpunkt, als es in Deutschland erst dreißig Solawis gab, kamen wir 2012 auf die Idee, diese Heirat aus Solidarische Landwirtschaft und Genossenschaft für die Großstadt München zu wagen. Wir haben das damals als völlige Quereinsteiger:innen gemacht, aber mit dem Anspruch, es groß und für eine breite Stadtbevölkerung anschlussfähig zu gestalten. Seit ein paar Jahren ist das Kartoffelkombinat die größte Solidarische Landwirtschaft in ganz Europa.
Wie funktioniert genossenschaftliche Solidarische Landwirtschaft?
In der Solidarischen Landwirtschaft geht es darum, dass sich Erzeuger:innen und Verbraucher:innen zusammenschließen und gemeinsam bestimmen, was und wie angebaut wird. Das Besondere im Kartoffelkombinat ist: Dadurch, dass es genossenschaftlich organisiert ist, ist die Genossenschaft selbst die Erzeugerin. Jedes einzelne Mitglied ist also nicht nur Eigentümer:in des Kartoffelkombinats, sondern eben auchselbst Erzeuger:in und gleichzeitig Konsument:in des Gemüses. Das ist ein sehr integrierter Solawi-Ansatz. Die jährlichen Betriebskosten werden immer wieder aufs Neue geplant und durch die Anzahl der bestehenden Mitglieder geteilt, sodass am Anfang des Jahres für jedes Mitglied klar ist, welche Beiträge erwartet werden. Das hat den Vorteil, dass alles – alle Löhne, die Kosten für das Saatgut oder den Traktor – am Anfang des Jahres finanziert ist. Es ist so, als würde man einen gemeinsamen Garten bestellen und sich gemeinschaftlich darum kümmern, dass alles gut wächst. Und danach teilt man die Ernte solidarisch unter allen auf. Wenn ein Jahr besonders gut in der Ernte ausfällt, dann wird diese gute Ernte auf die Mitglieder verteilt, ohne dass es deswegen mehr kostet. Aber, wenn es wie dieses Jahr ein besonders schwieriges Frühjahr ist, und wegen des vielen Regens vielleicht mal ein bisschen weniger in der Kiste ist, dann zahlen die Mitglieder weiter den vereinbarten Beitrag, nicht weniger. Die Mitglieder teilen sich also die Verantwortung, haben aber auch spezielle Mitspracherechte. Der Anspruch der Idee ist, dass die Mitglieder stark partizipieren, an den Entscheidungsprozessen und an der Umsetzung beteiligt sind.
„Als würde man einen gemeinsamen Garten bestellen. Danach teilt man die Ernte solidarisch auf“
Was gibt es außer Kartoffeln beim Kartoffelkombinat?
Das Witzige ist, dass wir uns zwar so genannt haben, aber am Anfang gar keine Kartoffeln angebaut haben – sondern Kartoffeln nur zugekauft haben. Einen kleinen Anteil an Gemüse decken wir über Kooperationsbetriebe ab. Bestimmte Kulturen wie Kartoffeln oder Getreide lohnen sich in einem kleinen Maßstab noch nicht. Generell versuchen Solawis aber sowohl im Freiland als auch im Gewächshaus möglichst vielfältig anzubauen: von Frühjahrskulturen wie Kräuter und Salate, über Sommerkulturen wie Tomaten und Auberginen, bis hin zum Lagergemüse wie Kürbisse, Rote Bete und Sellerie. Das ganze Jahr über wird angebaut, selbst im Winter bauen wir winterharte Salate an.
Wie arbeitet das Kartoffelkombinat mit anderen Solawis zusammen?
Ich bin selbst seit vier Jahren im bundesweiten Dachverband Netzwerk Solidarische Landwirtschaft engagiert und versuche dort, das gesammelte Wissen für bestehende, aber auch künftige Solawi-Initiativen aufzubereiten und in der freien Bewegung zu streuen. Das gelingt dadurch, dass die Solawis miteinander im Austausch sind, über Netzwerktreffen oder Online-Stammtische. Das Netzwerk ist auch mitverantwortlich dafür, dass es rund zehn Jahre nach der Gründung 2011 mehr als fünfhundert Solawi-Betriebe in Deutschland gibt.
„Mehr als fünfhundert Solawi-Betriebe in Deutschland“
Was ist das Besondere an den Solawi-Genossenschaften?
Genossenschaftlich organisierte Solawis gibt es bislang ca. dreißig. Im Vergleich zu anderen Rechtsformen haben die Solawi-Genossenschaften einen wesentlich größeren bürokratischen Aufwand. Da die Genossenschaft aber tatsächlich den Mitgliedern gehört, wird dort das Demokratieprinzip noch stärker betont als im Solawi-Verein. Mitbestimmung, Teilhabe und Partizipationsmöglichkeiten sind generell im Konzept der Solidarischen Landwirtschaft verankert – bei der Genossenschaft ist das noch verstärkt.
Wie funktioniert das innerhalb eines kapitalistischen Systems?
Es geht um die Frage von Selbstorganisation und Selbsthilfe. Das heißt im Prinzip das Zurückerlangen von Autonomie über die eigenen Grundversorgungsprozesse, über Ernährungssouveränität. In der Corona-Krise haben wir gemerkt, wie schnell es zu Versorgungsengpässen kommen kann oder sich gesellschaftliche Gruppen radikalisieren und spalten. Wir versuchen, die produktive Wertschöpfung von Grundversorgungs-Lebensmitteln dem Markt zu entziehen. Also nicht mehr pauschal davon auszugehen, dass Lebensmittel für einen anonymen Markt produziert werden, sondern für eine vorab definierte Abnehmerschaft, die in Entscheidungsprozesse eingebunden ist und sich Verantwortung und Kosten teilt. Wir organisieren uns bewusst in flachen Hierarchien, auf Augenhöhe, in demokratischen Organisationen, in denen den Menschen wirklich auch ermöglicht wird, die kapitalistische Marktlogik zu verlernen und eine gemeinschaftsgetragene Wirtschaftsweise zu erlernen. Wir sind alle in einem kapitalistischen System sozialisiert und haben oftmals das Verständnis, dass es keine Alternative dazu gibt. Die Solidarische Landwirtschaft zeigt, dass es durchaus eine Alternative gibt, produktiv wertzuschöpfen und dabei die zentralen Themen wie Umweltschutz, Lebensmittelverschwendung, Solidarität nicht einfach dem Markt zu überlassen.
„Nicht dem Markt überlassen: Umweltschutz, Lebensmittelverschwendung, Solidarität“
Wie kamen Sie persönlich zum nachhaltigen und genossenschaftlich-solidarischen Wirtschaften?
Ich war früher auch jemand, der zum Beispiel gesagt hat, wenn es so schädlich wäre zu fliegen, dann wäre das schon verboten. Ich habe Events für große internationale Firmen organisiert, oder in Indien mitgeholfen, große multinationale Projekte umzusetzen, die bestimmt alles andere als nachhaltig waren. 2010 bin ich auf den Film von Al Gore gestoßen: „An Inconvenient Truth“ [„Eine unbequeme Wahrheit“; d. Red.]. Das war mein erster Nachhaltigkeitsfilm und ich konnte es nicht glauben, was mir da offenbart wurde. Dann habe ich mir mehrere Monate Zeit genommen, um mich weiter damit auseinanderzusetzen und bin eingetaucht in die Materie um die Zukunftsfragen dieses Planeten. Ich bin dann leider zu dem Schluss gekommen – und fühle mich nach dreizehn Jahren mehr als bestätigt darin – dass wir auf einem wahnsinnig schlechten Weg sind und es eigentlich nicht mehr zu schaffen ist, das ganze wirklich einvernehmlich und im Sinne zukünftiger Generationen zu lösen. Ich denke, dass wir schon mittendrin stecken und dass wir keine „Transformation by Design“ [etwa: Wandel durch Gestaltung], sondern eine „Transformation by Desaster“ [etwa: Wandel durch Zusammenbruch; d. Red.] erleben werden. Vor diesem Hintergrund ist die Solawi-Idee für mich eine Art Überlebensprogramm, das wir hier gerade entwickeln.
„Ich konnte nicht glauben, was mir da offenbart wurde“
Sie sind selbst durch einen Film in diese Richtung gestoßen worden. Bald erscheint auch ein Film über das Kartoffelkombinat. Was hat es damit auf sich?
Wir wurden schon einmal in einem Kinofilm portraitiert, allerdings nur sehr kurz. Und zwar heißt der Film „Projekt A. Eine Reise zu anarchistischen Projekten in Europa“. Die Filmemacher haben uns am Schluss als Modell eines anarchistischen, selbstverwalteten Projekts aus der bürgerlichen Mitte dargestellt, in Abgrenzung zu radikalen und vielleicht gewaltvollen Initiativen. Und die Filmemacher haben damals nicht aufgehört, uns immer wieder zu besuchen und zu begleiten und so ist jetzt eine Doku entstanden, die die Entwicklung des Kartoffelkombinats seit 2014 bis heute portraitiert und damit auch einen tiefen Einblick gibt in die inneren Funktionsweisen eines Projektes gibt, das darum ringt, alternativ zu wirtschaften. Dabei gab es auch im Kartoffelkombinat im Laufe der Jahre größere Veränderungsprozesse und Konflikte, denn nur weil man sich auf ein gemeinschaftliches Konzept wie Genossenschaft plus Solidarische Landwirtschaft verständigt hat, heißt das ja nicht, dass man immer an einem Strang zieht. Auch dort gibt es natürlich unterschiedliche Prioritätensetzungen und Schwerpunkte. Es ist immer wieder dieses Ringen, um den transformativen Charakter zu bewahren. Es geht es auch immer wieder um die optimale Größe einer solchen Organisation zwischen dem ideellen Anspruch, möglichst klein zu bleiben, um eine hohe Identifikation der Mitglieder mit der Organisation zu erlauben, und auf der anderen Seite aber auch groß genug zu werden, um betriebswirtschaftlich stabil zu sein, faire Löhne zahlen zu können, und nicht abhängig zu sein von ehrenamtlichem Engagement.
„Veränderungen und Konflikte“
Was kann die genossenschaftliche Solawi in Zukunft erreichen?
Wir wollen die Leute inspirieren und zeigen, dass es Alternativen gibt – und dass diese Alternativen auch durchaus Spaß machen können. In dem Sinne, einmal die Hände in die Erde zu stecken, und auch Kindern zu vermitteln, wo die Lebensmittel herkommen. Sich aber auch mit einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu verbinden, neue soziale Kontakte aufzubauen und dabei zu wissen, dass es eigentlich besser nicht geht, als die Grundversorgung der eigenen Ernährung in eigene Hände zu legen, sich genossenschaftlich und transparent demokratisch zu organisieren. Das hat auch einen hohen Erlebnisfaktor und bietet die Möglichkeit, die Verhaltens- und Denkmuster, die wir im Kapitalismus kultiviert haben, sukzessiv zu verlernen und alternative Handlungsoptionen selbst in Gemeinschaft neu zu erarbeiten.
GELD ODER LEBEN - Aktiv im Thema
finanzwende.de | Der in Berlin ansässige Verein Bürgerbewegung Finanzwende will als „unabhängiges und überparteiliches Gegengewicht zur Finanzlobby“ dafür sorgen, „dass die Finanzmärkte wieder den Menschen dienen“.
facing-finance.org | Der in Berlin ansässige Verein Facing Finance will „deutsche und europäische Finanzdienstleister […] sensibilisieren, bei Investitionsentscheidungen völkerrechtliche Verträge, soziale Normen und Umweltstandards umfassender zu berücksichtigen“.
attac.de | Auftritt des deutschen Ablegers der 1998 in Frankreich gegründeten NGO Attac, die Armut, Ungleichheit und Ausbeutung als Folgen einer konzern- und finanzmarktfreundlichen Globalisierung kritisiert.
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