Mittwoch, 27. März: Die regelmäßig im Filmforum im Museum Ludwig bei kostenlosem Eintritt stattfindende Filmreihe ifs-Begegnung stand dieses Mal unter dem Oberthema „Gender & Diversity“. Dafür hatte sich die Internationale Filmschule Köln mit den Veranstaltern des in wenigen Wochen in der Domstadt wieder startenden IFFF Internationalen Frauen Film Fest Dortmund+Köln zusammengetan. Die Kuratorin des dortigen Kinderprogramms, Jule Murmann, hielt die Einführung für den Filmabend, an dem Claire Simons neuester Film, „Notre Corps“ (Unser Körper), gezeigt wurde. Der knapp dreistündige Film, der im vergangenen Jahr in der Sektion „Forum“ bei den Internationalen Filmfestspielen von Berlin seine Weltpremiere feierte, beschäftigt sich auf dokumentarische Weise mit den Vorkommnissen in der gynäkologischen Abteilung eines Pariser Krankenhauses. Für Jule Murmann ist hier eine „Art epischer Dokumentarfilm“ entstanden, der seine Themen „von der Befruchtung bis zum Tod“ spannt. Gleich in der ersten Szene des Films nimmt Claire Simons Kamera an einem Aufklärungsgespräch zwischen einem fünfzehnjährigen schwangeren Mädchen und einer Beraterin des Krankenhauses teil. Die junge Frau erzählt, wie sie ungewollt schwanger geworden ist, und dass sie nun einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen will. „Die medizinische Aufklärung geht hier über kulturelle Barrieren hinweg. Diese Selbstverständlichkeit gibt es in Deutschland nicht. Dies liegt u.a. sicher auch daran, dass es in Frankreich nicht nur ein Recht auf Abtreibung gibt, sondern dass die körperliche Selbstbestimmung auch seit vier Wochen in der französischen Verfassung verankert ist. Im Gegensatz zu Deutschland, wo Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich erstmal strafbar ist“, fasste Murmann die aktuelle Situation zusammen.
Kino physisch erlebbar machen
Abtreibung bei ungewollter Schwangerschaft ist aber nur eines von vielen Themen, denen sich Claire Simon in ihrem Film annimmt. Es geht darüber hinaus u.a. auch um Hormontherapien und Operationen vor und während geschlechtsangleichender Prozesse, Regel- oder Schwangerschaftsprobleme, künstliche Befruchtungen, die Schilderung einer natürlichen Geburt im Vergleich zu einem Kaiserschnitt, bis hin zu Krebserkrankungen und Sterbeprozessen. Für Jule Murmann ist es bemerkenswert, dass Claire Simon in all diesen kleinen Episoden der ansonsten stark marginalisierten Darstellung des weiblichen Körpers effektvoll etwas entgegensetzt. Wichtig dabei sei Simons Ansatz, dass das „Kino physisch“ sei. Für die autodidaktische Filmemacherin, die durch die Montage zur Regie gekommen ist, sei es immer wichtig gewesen, im Kino einen „gemeinschaftlichen Körper zu entwickeln“. In diesem Zusammenhang zitierte Murmann eine Aussage der Regisseurin Simon wörtlich: „Das Kino ist von Beginn an physische Bewegung, man denke nur an Charlie Chaplin. Wenn man etwas physisch erlebt, ist das bewusstseinserweiternd, und manchmal verändert das auch die eigene Meinung über etwas.“ Das physisch Erlebte und einzelne Orte hätten immer schon eine große Rolle im Werk der französischen Filmemacherin gespielt. So stand in ihrer Dokumentation „Le bois dont les rêves sont faits“ beispielsweise die größte Grünfläche von Paris im Mittelpunkt, in ihrem Spielfilm „Gare du Nord“ dann wiederum der meist frequentierte Bahnhof der französischen Hauptstadt. Auch dem französischen Gesundheitssystem hatte sich Simon bereits zuvor gewidmet, denn in ihrem Film „Das Büro Gottes“ aus dem Jahr 2008 befasste sie sich schon einmal mit Fragen und Problemen bei Schwangerschaften.
Ungewollt zur Protagonistin werden
„Claire Simons Dokumentarfilme sind keine reinen direct cinema-Filme, die die reine, unbeeinflusste Beobachtung für sich beanspruchen“, führte Jule Murmann im Filmforum weiter aus. Denn die Regisseurin würde sich selbst auch immer mit in die Beobachtungen einbringen. Auch bei „Notre Corps“ ist das nicht anders, denn während der Dreharbeiten im Pariser Krankenhaus wurde auch Simon selbst zur Patientin dort, da bei ihr aufgrund mehrerer bösartiger Tumore eine Mastektomie vorgenommen werden musste. So wird die Regisseurin – hier jedoch ungewollt – mitten in den Dreharbeiten selbst zu einem der geschilderten Fälle vor der Kamera. Dass „Notre Corps“ auf der Berlinale zwar das „Forum“-Programm eröffnete, jedoch nicht im großen internationalen Wettbewerb gezeigt wurde, ist für Murmann symptomatisch zu verstehen. Für sie und ihre KollegInnen des Internationalen Frauen Film Fests liegt das an der „noch immer weit verbreiteten Tabuisierung des weiblichen Körpers“, weswegen es ihnen ein großes Anliegen war, „Notre Corps“ bei der ifs-Begegnung vorzustellen. Damit war der Abend im Filmforum bereits ein kleiner Vorgeschmack auf das eigentliche Festival, das vom 16. bis 21. April 2024 in diesem Jahr ebenfalls in Köln stattfindet, und bei dem über einhundert Filme von Regisseurinnen aus aller Welt gezeigt werden. Die Beiträge des von Murmann kuratierten Kinderprogramms des IFFF, das Altersgruppen zwischen der Kita bis zur Oberstufe abdeckt, werden in diesem Zeitraum vormittags ebenfalls im Filmforum aufgeführt werden.
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