In jeder Kulturredaktion gibt es auf der Halde eine Themenidee zu „Pop und Politik“, über die Frage, ob und wie politisch Pop heute ist. Der Vorteil des Themas ist, dass man es veröffentlichen kann, wenn politisch gerade nichts passiert, aber auch wenn mal wieder Plätze besetzt und Paläste gestürmt werden. Gefragt wird dabei in der Regel nach dem „politischen Gehalt“ von Popmusik. Äußern sich die Musiker zu IS, Pegida, Klimawandel? Spenden sie? Demonstrieren sie? Oder machen sie sogar den Soundtrack zur nächsten Demo? Dann kann man das alles noch mit ein wenig historischen Details zu Yoko Ono und John Lennon, Tom Morello in den Occupy-Camps sowie zu Red Wedge, Public Enemy und „Arsch huh!“ würzen. Schon ist das Thema abgehandelt.
Dabei wäre die interessante Frage eigentlich, wie genau Pop auch dann politische Wirkung wirkt, wenn sich die Künstler eben nicht explizit politisch äußern. Die Kulturindustrie-Kritik des alten Professors von der Frankfurter Schule machte sich schließlich auch weniger am politischen Gehalt der kritisierten Unterhaltungsmusik fest, sondern an ihren formalen Eigenschaften. Gerade weil Pop simpel gestrickt ist, wirkt er politisch affirmativ – egal ob nun Wolfgang Niedecken über Politik oder Andreas Gaballier über seine österreichische Heteromännlichkeit singt. Von daher ist es natürlich toll, wenn das Kölner Neue-Musik-Festival Acht Brücken sich dieses Jahr dem Zusammenhang von Musik und Politik widmet und dabei auch der Popmusik einen Raum gibt.
Weniger erfreulich allerdings ist, dass dieser Raum wieder mit klassischer Protestmusik gefüllt wird. Das 16Bit-Polit-Elektronik-Projekt Atari Teenage Riot hat in den 90ern mit Breakbeats und Bad-Brains-Gitarrensamples gegen die Deutschtümelei in der Technoszene geschossen, bevor sie sich mit ihrer elektronifizierten Rockmusik in der Revolutionsfolklore verloren haben. Sie ausgerechnet am 1. Mai, dem Feiertag der Revolutionsfolklore, im Stadtgarten auftreten zu lassen, hat schon einen Zug Realsatire. Anders dagegen Ana Tijoux: Die Rapperin aus Chile lässt immer wieder politische Botschaften in ihre Songs einfließen, aber anstatt Slogans zu hämmern, erzählt sie lieber von Wünschen und kollektiven Sehnsüchten.
Wenn man sich über Pop und Politik unterhält, muss man sich aber auch eingestehen, dass politischer Protest meist gut ohne Protest-Pop auskommt. Im Dezember 2010 machte während der Studentenproteste in London eine Reihe Jugendlicher auf sich aufmerksam, die gegen die Abschaffung des britischen Schüler-BAFöGs protestierten. Niemand hatte sie zuvor beachtet, weder die Medien, noch die Studierenden. Also kaperten sie ein Soundsystem und veranstalteten bei 0 Grad einen Freiluft-Rave mit Songs von Rihanna und Nicki Minaj. So politisch wie in diesem Moment ist Pop selten – nur mit Protestmusik hatte es nichts zu tun. Kann man ja auch mal drüber nachdenken.
Atari Teenage Riot | Stadtgarten Köln | Fr 1.5. 22 Uhr | 0221 952 99 40
Ana Tijoux | Philharmonie Köln | Di 5.5. 21 Uhr | 0221 20 40 80
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