In den zehn Jahren, in denen Dorothee Junck als Inhaberin des Buchladens Neusser Straße fungiert, konnte sie genug Einsichten in die Lesegewohnheiten ihres Klientels gewinnen, dass sie mittlerweile sehr schnell weiß, welche Art Besucher sie gerade vor sich hat. „Es gibt Besucher, die wissen, was sie wollen und die direkt ihren Weg in das Ressort ihrer Wahl finden. Andere kommen, um etwas zu bestellen oder begleiten ihre Kinder. Es gibt jedoch auch ein unentschlossenes Publikum, das noch nicht genau weiß, was es gern hätte und das eine Beratung von Seiten engagierter Mitarbeiter gern annimmt.“ Eben dieses Klientel fand sich bei ihr zuletzt in den mehr als kompetenten Händen einer Reihe von hochkarätigen Aushilfskräften wieder, die entschlossen waren, die Besucher nicht ohne Leseempfehlung ziehen zu lassen. So standen den Besuchern verdiente Literaturkritiker wie Christine Westermann, Denis Scheck, Stefanie Junker und Ulrich Noller mit Lese- und Kaufempfehlungen zur Seite.
Die Anwesenheit derart hochkarätiger Gäste hatte ihren Grund. Anlässlich der vor drei Jahren ins Leben gerufenen „Woche unabhängiger Buchhandlungen“, einer Kooperation freier Buchhandlungen zugunsten stationären Handels, lud Junck, nachdem im vergangenen Jahr Autoren zu Gast waren, diesmal überregional bekannte Literaturkritiker ein, um als Gastpersonal ihre Verbundenheit zu Buchläden abseits anonymer Massenabfertigung großer Ketten oder Online-Bestellshops zu unterstreichen. Wo sonst, wenn nicht in den unabhängigen, wohlsortierten und auf Dialog mit Kunden ausgerichteten Buchhandlungen wie jenen in der Neusser Straße nimmt man sich sonst die Zeit, den Geschmack der Leserschaft einerseits zu bedienen, oder beizeiten mit einer versierten Empfehlung zu erweitern? So gilt es in dieser Woche, den unabhängigen Buchhandel auch als kulturelle Begegnungsstätte zu feiern, statt nur zu betrauern, dass Geschmäcker immer mehr zu Schubladen werden, aus denen die Leser mangels Dialog nicht mehr ausbrechen können.
Prominente Unterstützer und Gäste sind für Junck ein Weg, die Aktionswoche, an der in diesem Jahr über 600 Buchhandlungen teilnehmen, auch an die Bewohner des Viertels zu tragen und ein Laufpublikum mit Neugier und Leselust zu füllen. „Ich glaube, dass uns bei der Suche nach namhaften Kritikern auch unser engagierter Ruf geholfen hat. Bei Stefanie Junker und Ulrich Noller kam der glückliche Zufall hinzu, dass sie hier wohnen und sich dann spontan dafür entschieden haben, in die Bresche zu springen. Über die beiden kamen dann auch die Kontakte zu Christine Westermann und Denis Scheck zustande, die sich ebenfalls, ohne dass größere Überredungskünste nötig gewesen wären, recht kurzfristig bereit erklärt haben.“
Die Riege belesener Aushilfskräfte stürzte sich dann auch frei von jeder Befangenheit in den Direktkontakt mit den Leserinnen und Lesern, denen sie ihre saisonalen Favoriten und All-Time-Evergreens ans Herz legte, wobei ein jeder eigene Steckenpferde und Interessenfelder abdeckte und einen anderen Ton an den Tag legte. Während Krimiexperte Noller an einer Stelle mit Gästen über Verbrechen und Strafe dies- und jenseits des großen Teiches fachsimpelte, amerikanische Hard-Boiled-Schreiber wie Don Winslow mit gemütlich-nordischen Schlachtplatten à la Jo Nesbø abwog und gestand, dass er selbst auf der Spurensuche nach guten deutschen Krimis sei – wobei er mit Andreas Pflügers neuem Werk „Niemals“ glaubt, endlich wieder fündig geworden zu sein –, sprach Radiomoderatorin Junker ein paar Meter weiter den Besuchern ins Gewissen, Mariana Lekys „Was man von hier aus sehen kann“ auf die Leseliste zu setzen. Christine Westermann stellte im Gespräch mit den Gästen gern die gedämpfte, vertrauliche Lautstärke eines Vier-Augen-Gespräches her und hakte gelegentlich nach jeweiligen literarischen Vorlieben nach, um den Geschmack und damit das Feld der möglichen Empfehlungen einzugrenzen. Denis Scheck konnte seine Showmanship derweil nicht völlig verhehlen. Wenn er hier eine Lanze für „Golden House“, dem neuen Werk aus der Feder Salman Rushdies brach, schien dabei doch immer der aus Funk und Fernsehen bekannte Performer durch, der ausholte, Anekdoten einflocht und den etwaigen Käufer mit Charme und Entertainer-Qualitäten für ein Buch einzunehmen verstand. Schnell stellte sich Event-Charakter ein.
Die Angst, dass der Trubel rund um den hohen Besuch sich vor die Intimität des Leseerlebnisses stellen könnte, kennt Junck derweil nicht. Wenn die Lesegewohnheiten sich ändern, tut auch der Buchhandel gut daran, sich zu verändern. „Natürlich muss man sich treu bleiben und den eigenen Ansprüchen folgen, doch darf man sich dabei nicht abwenden und ein offenes Auge für die Veränderungen und Bedürfnisse der Leserschaft haben. Das gilt im großen wie im kleinen Umfang. Speziell Nippes ist da ja ein gutes Beispiel. Auch hier gibt es Wandel in der Bevölkerung und es kam zu einer Verjüngung dadurch, dass viele Familien hergezogen sind und einige Stammgäste im höheren Alter entweder versterben oder aus Gründen der Mietpreise wegziehen. Das muss man registrieren und auffangen.“ Die Zeiten, in denen das Lesen vom elitären Dünkel verbrämter Viererrunden besprochen wurde, wirkten an diesem Samstag überwunden, und so zeigte sich auch Junck begeistert, dass das gedruckte Wort eben keine nostalgische Verklärung nötig hat, sondern auch in vermeintlich schnelllebigen, digitalen und angeblich lesefaulen Zeiten noch das Zeug zum Event hat und zwischenzeitig regelrechtes Gedränge auslösen kann.
Buchladen Neusser Straße | Neusser Str. 197
Woche unabhängiger Buchhandlungen | 4.-11.11. | wub-event.de
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