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Die Flüchtlingshelfer Frank Jablonski (l.) und Erik Marquardt (M.) mit Arndt Klocke
Foto: Jan Schliecker

Rettung in letzter Minute

16. Juni 2016

„Seefeuer“-Preview mit Gespräch über die Flüchtlingskrise im Filmhauskino – Foyer 06/16

Mittwoch, 15. Juni: Nach „Das andere Rom – Sacro GRA“ drehte Gianfranco Rosi auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa den auf der Berlinale 2016 mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Dokumentarfilm „Seefeuer“ über den Alltag sowohl der Inselbewohner als auch der italienischen Küstenwache, die überfüllte Flüchtlingsboote abfängt. Rosi lebte für ein Jahr auf Lampedusa und war meist als Ein-Mann-Filmteam überall dabei; als wie zuvor gänzlich stiller Beobachter wohnte er einigen erschütternden Szenen bei und zeigt ausführlich die wesentlichen Such-, Rettungs- und Erstversorgungsprozeduren sowie die Registrierung und Unterbringung der Flüchtlinge in den Auffangstationen vor Ort. Andererseits porträtiert er auf der vom Fischfang abhängigen Insel insbesondere einen jungen Schüler, der allerlei Schabernack treibt und von der Familie an die Fischerei herangeführt wird. Verbindungen zwischen den autarken Erzählsträngen vor und auf der Insel – eine fruchtbare Gegenüberstellung – entstehen nur auf metaphorischer Ebene. Der zudem noch technisch beeindruckende Film startet am 28. Juli als Original mit Untertiteln im Kino und wurde nun im Filmhaus in der vom Landtagsabgeordneten Arndt Klocke moderierten Reihe Grünes Kino und in Kooperation mit dem Filmbüro NW als frühes Preview mit anschließender Diskussion gezeigt.


Gianfranco Rosi bei den Dreharbeiten zu „Seefeuer“, Foto: © 21 Uno Film

Frank Jablonski, Flüchtlingshelfer und Organisator von Hilfskonvois, war von dem Film beeindruckt, der ihm einen Eindruck von der Lage an einer ganz anderen Stelle vermittelt habe. In Köln sei damals die Drehscheibe am Köln-Bonner Flughafen als eine Art Erst-Aufnahme- und Verteilerstation eingerichtet worden. Die 800 bis 900 Flüchtlinge in den Zügen aus Passau „wussten nicht, in welche Stadt sie kommen würden und sind dann 7 bis 8 Stunden später in Köln ausgeladen worden“. Die Stadt habe eine medizinische Erstversorgung gewährleistet, während eine ehrenamtliche Gruppe ohne jegliche Hilfe von Stadt oder Land bei der Organisation der Weiterreise von etwa 40% der Ankommenden half, die erstmal in Köln „strandeten“, aber eigentlich nach Schweden, Benelux oder Frankreich wollten. Bis zu 250 Menschen hätten die Ehrenamtler im Bahnhof auf dem Boden übernachten lassen. „Wir waren überrascht, wie wenig Unterstützung es in dieser Situation gab.“ Die Flüchtlinge seien vor allem im Herbst 2015 in einem „absolut erbärmlichen Zustand“ in Köln angekommen. „Wir waren häufig komplett geschockt, die Leute waren 24, 48 Stunden in der Europäischen Union, hatten keine Gelegenheit irgendwo vernünftig zu schlafen, zu duschen, wurden nicht medizinisch untersucht.“ Nach ein bis zwei Monaten hätten erste Flüchtlinge begonnen, die Arbeit der Ehrenamtler zu unterstützen.


„Seefeuer“: Der Arzt auf Lampedusa ist verzweifelt, Bild: © 21 Uno Film

Auch Erik Marquardt, Bundessprecher der Grünen Jugend, wusste aus seiner Zeit in Flüchtlingslagern wie Idomeni zu berichten, dass die Flüchtlinge selber Versorgungstrukturen schaffen würden. Entlang der Routen sei die Versorgung z.B. mit Wasser allerdings sehr schlecht. „Es ist natürlich immer die Frage, welche Aufgaben übernimmt man privat noch und wo fängt man an, sich nur darauf zu konzentrieren, die perfide und schäbige Abwesenheit des Staates anzuprangern.“ Wer sich privat engagiere, würde schnell merken, dass es darum ginge, „dauerhaft den Mangel zu verwalten“, ohne dass etwas besser werde. „Man muss auch gucken, wie man politisch noch schlagkräftiger wird.“

Jablonski sprach von seinem „Zweifel an der EU“, seit er im April den schon seit sieben Jahren bestehenden „Dschungel“ in Calais besucht habe. „Es gibt in Calais keinerlei Infrastruktur für 5000 bis 7000 Menschen. Die hausen da unter Planen, in schäbigen Baracken. Es gibt ein paar Dutzend Dixi-Toiletten, eine Wasserleitung und drei privat organisierte Küchen. Ansonsten gibt es da keinerlei staatliche Struktur, kein Rotes Kreuz, kein UNHCR, es gibt nichts seit sieben Jahren. Wir haben da Kinder gesehen, Zwölfjährige, die da allein gelebt haben, die werden da auch nicht rausgeholt. Das Einzige was man da sieht, wo der französische Staat präsent ist, ist mit einem immensen Aufgebot an Polizei.“ Diese Situation, vier Stunden von Köln entfernt, sei „politisch von Frankreich und Großbritannien so gewollt“.


Arndt Klocke, Erik Marquardt, Frank Jablonski, Foto: Jan Schliecker

Marquardt hatte an anderen Stellen dieselben Erlebnisse gehabt. „Auf Lesbos zum Beispiel war ich länger, vier Mal auch, und wenn ich dann die Berichterstattung lese, dass Angela Merkel sich jetzt freut und sagt, die Balkanroute ist geschlossen, das lohne sich ja schon, weil die Menschen dann dort nicht mehr ertrinken müssen. Das ist für mich unverständlich, wie auf höchster politischer Ebene so eine Abwesenheit von Wissen, Intellekt oder Menschlichkeit ist, dass man einfach Dinge behauptet, weil sie einem politisch genehm sind und damit Menschen nicht nur beleidigt, sondern auch in den Tod schickt.“ Der Film habe ja die Gefahren der Lampedusa-Route gezeigt, „die übrigens sehr sehr viele Leute, sogar die, die jetzt in Griechenland festsitzen, versuchen zu nehmen. Wenn sie genug Geld haben, werden die zu großen Zahlen erst in die Türkei, dann versuchen mit Schleppern wieder nach Syrien zu kommen und dann irgendwie rüber nach Libyen, und dann werden die in diese Boote steigen, eine Woche auf dem Wasser sein und viele dabei sterben, viel mehr als auf den kurzen Seewegen auf der Balkanroute.“ Die Leute, die das versuchen, hätten nicht mehr viel zu verlieren, außer ihr eigenes Leben – das interessiere aber zu wenige.

Auch über die Motive und Wünsche von Flüchtlingen, die Lage im Libanon oder die von den Grünen abgelehnten Pläne, die Mahgreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären oder Europa weiter abzuschotten, wurde gesprochen. Das Filmhauskino hat kürzlich bekanntgegeben, dass die Sanierung des Hauses verschoben wurde, auch die monatliche Reihe Grünes Kino kann daher laut Initiator Arndt Klocke erst einmal weiterlaufen.

Jan Schliecker

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