Ein Sommerabend. Thomas und Astrid sind mit ihren beiden Kindern aus den Ferien gekommen. Während Astrid noch einmal nach den fast schlafenden Kindern schaut. Sitzt Thomas vor dem Haus, vor sich ein Glas Wein. Er steht auf, öffnet das Gartentor, geht die Straße entlang. Am nächsten Morgen fragen die Kinder am Frühstückstisch nach ihm. Astrid denkt, er sei schon früh zur Arbeit aufgebrochen, aber er kommt weder am Nachmittag noch am Abend und bleibt verschwunden. Haben wir nicht alle schon einmal daran gedacht, aus der Tretmühle des durchgeplanten Alltags auszuscheren? Peter Stamm folgt Thomas bei seiner Odyssee ins Unbekannte. Wie ist das, wenn man nur einen Pullover bei sich hat und ein paar Scheine in der Tasche? Wir gehen mit Thomas über die Landstraße, in den Wald, ins nächste Dorf. Irgendwann beginnt es zu regnen, der Hunger stellt sich ein, die Müdigkeit.
„Weit über das Land“ lautet der Titel des neuen Romans, den Peter Stamm in seiner schweizerischen Heimat ansiedelt, wo sich Städte, Dörfer und Berglandschaften ineinander verschränken. Was für ein radikaler Schnitt. Werner Herzog hat ein vergleichbares Unternehmen in seinen Aufzeichnungen „Gehen im Eis“ beschrieben, als er ohne Ausrüstung zu Fuß von München nach Paris aufgebrochen ist. Wo schläft man, wenn man nichts hat? Was isst man ohne Geld? Thomas ist aber nur einer der beiden Protagonisten, Stamm schreibt einen Doppelroman. Wir schauen auch in Astrids Realität, und die ist fast noch interessanter als der Trip durch die Wildnis der Zivilisation. Für die Familie stellt Thomas‘ Verschwinden eine Katastrophe dar, die mit Verzögerung über sie hineinbricht. Astrid schämt sich vor den Freunden und der Nachbarschaft. Sein Fortgang nimmt sich wie ein Beziehungsversagen aus. Wie sagt sie den Kindern, dass der Vater nicht wieder nach Hause kommen wird? Denn auch die Nachforschungen der Polizei bleiben erfolglos. Eine furchtbare Situation für Astrid, zumal sie Thomas im Innersten verstehen kann. Er ruiniert ihr Leben und sie kann ihm nicht böse sein.
Peter Stamm steht hinter seinen beiden Helden, denn das sind sie, weil jeder auf seine Weise die Einsamkeit, die über sie gekommen ist, zu bewältigen hat. Wir schauen ihnen dabei zu, ein literarisches Abenteuer, auf das wir mitgenommen werden, denn mit der Fremdheit, in die beide gestoßen werden, schärft sich auch ihre Wahrnehmung. Wir sehen unsere zersiedelte Lebenswelt aus einer unbestechlichen Perspektive. In den Passagen, die Thomas gewidmet sind, erleben wir die körperliche Dimension dieser Irrfahrt durch Mitteleuropa. – Während es bei Astrid die soziale Fremdheit ist, da niemand die Wucht des Unglücks, das ihr widerfährt, aufzufangen weiß.
Peter Stamm erzählt eine große, schicksalsschwere Geschichte, die doch auf nichts weiter als unserer banalen, zum Drama scheinbar nicht vorgesehenen Wohlstandswelt basiert. Die Radikalität dieses schmalen Romans liegt in der Konsequenz, mit der Stamm seinen Figuren folgt und ihre Realität umsichtig schildert. Man folgt ihrem Verlauf mit zunehmender Atemlosigkeit, und Stamm lässt die Geschichte nicht im Ungefähren verläppern, sondern führt sie in ein ebenso erstaunliches wie plausibles Ende. Deshalb darf man auch auf keinen Fall vorblättern, sondern muss die Spannung durchstehen. Mit diesem Roman, den Stamm auf der lit.Cologne (15.3., 19.30 Uhr, Comedia) präsentieren wird, startet die deutschsprachige Literatur ganz stark ins Frühjahr.
Peter Stamm: Weit über das Land | S. Fischer | 224 S. | 19,99 €
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