Wer hätte gedacht, dass Walzertanzen noch so sexy sein könnte. Jedenfalls wenn Martin Schläpfer seine famose Kompanie, das Ballett am Rhein, auf die Bühne scheucht. Wer davon träumt, mit den Walzerdrehungen der „schönen, blauen Donau“ direkt in den Himmel hinein zu tanzen, mag sich bei Martin Schläpfers Choreographie „Marsch, Walzer, Polka“, die er jetzt im Kölner Opernhaus zeigte, die Augen reiben. Auf Spitze wird getanzt und das ganze Repertoire des klassischen Ballett entfaltet und zugleich schmunzelnd belächelt. Manchmal hält die Ballett-Maschine auf der Bühne für einen Moment inne, als wollte sie fragen, was machen die Damen da eigentlich, mit gespreizten Beinen. Ist das nicht auch ein wenig obszön? Martin Schläpfer spielt fein mit den Illusionen des klassischen Balletts, die auch dann kurz zerplatzen, wenn eine Tänzerin stolpert oder stürzt. Und die Blicke sind auch nicht demutsvoll gen Boden gerichtet, sondern die Tänzerinnen dieser Kompanie suchen den Blick des Publikums mit keckem Augenaufschlag. Dass sie dabei den Walzer in Dessous-Hemdchen servieren, entlockt nicht nur den älteren Herren amüsiertes Schmunzeln.
Schläpfer arbeitet subtil und mutig, auch mit seinen Tänzern, wenn er den Radetzkymarsch zum Beispiel mit großer Geste in Unterhose tanzen lässt. Dennoch verlacht dieser Reigen populärer Musiken nicht den Esprit, der in Marsch, Walzer und Polka steckt. Wer die Stereotypen aufbricht, verschafft der Vitalität wieder Entfaltungsraum und das kann – wie hier – eine intelligente, erotische Übung sein. Im zweiten Teil seines dreistündigen Gastspiels in Köln präsentierte Schläpfer seine „Tanzsuite“, eine Choreographie zu einer trockenen, harten Toncollage von Helmut Lachenmann, die den Titel „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ trägt. Vor den den schwirrenden Pixeln eines Fernsehbildes werden abgehackte Tanzphrasen gezeigt. Eine Dekonstruktion, der das Sogelement fehlt, obwohl sie großartig getanzt ist. Auch der dritte Teil zeigt viel Spitze, federleichte Sprünge und Pirouetten mit Tempo. Und das alles mit einer Präzision, ohne die diese pointierten Choreographien gar nicht funktionieren könnten. Schwierig in Deutschland eine Kompanie zu finden, die neben dem Ballett am Rhein, das in Düsseldorf und Duisburg zuhause ist, mithalten könnte.
Freilich zeigt sich im „Forellenquintett“ dann die problematische Seite des neoklassischen Stils. Die Fließgeschwindigkeit der Seele, die in Schuberts Musik gespiegelt wird, entwickelt sich zunächst nah am Thema. Das komplexe Nebeneinander von Gefühlen, die Strömungsverhältnisse des Wassers, die Bindungen schaffen und wieder lösen, mit dem Repertoire des klassischen Balletts entfalten diese Motive Frische, solange sich Spontaneität und stilistische Strenge miteinander verbinden. Dann jedoch verliert Schläpfers Kreation Charme und Ironie und die Stereotypen der alten Schule werden ungebrochen vorgezeigt. Ein wenig fad wirkt dieser Rückzug auf das, was die moderne Tanzwelt eigentlich überwunden zu haben schien. Richtig gut ist Martin Schläpfer dort, wo er den Kanon für neue Ideen nutzt und sich nicht auf Virtuosität zurückzieht.
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