Für Susannah beginnt der Albtraum aus heiterem Himmel. Sie ist jung, unbeschwert, glücklich. Niemandem hat sie je ein Leid angetan. Doch nun soll sie die größte aller Sünderinnen sein – weil sie nackt in einem Bach gesehen wurde. Die Wahrheit zählt mit einem Mal nichts mehr. Die Dorfgemeinschaft will sie büßen sehen.
Es ist ein starker, emotional hoch aufgeladener Stoff, den sich Carlisle Floyd Mitte der 1950er Jahre für seine Kurzoper „Susannah“ vornahm. Er war noch keine 30 und hatte vorher nur einen kleinen Einakter fürs Musiktheater komponiert. Aber er steckte voller Schaffenskraft und hatte mit seiner Geschichte aus dem „Bible-Belt“, dem fundamentalistisch religiösen mittleren Kernland der USA, den Nerv der Liberalen und Aufgeklärten unter seinen Landsleuten getroffen. „Susannah“ gilt heute nach „Porgy and Bess“ als zweitbeliebteste Oper der USA. Den Sprung in die Alte Welt hat der Zweiakter allerdings nie so recht geschafft. So kommt es, dass das Theater Hagen „Susannah“ nun als erst viertes deutsches Haus auf die Bühne bringt.
Roman Hovenbitzer führt die Regie bei der nunmehr vierten US-Oper in Hagen. „Susannah“ stellt keinen hohen technischen Anspruch an die szenische Umsetzung. Hovenbitzer allerdings setzt zusätzlich noch auf Reduktion. Ausstatter Jan Bammes baute eine schlichte schiefe Ebene aus Holzpaletten, darüber eine weitere, kleinere Fläche, die sich bespielen, hochziehen und zur Wand aufrichten lässt. Sie ist der Marktplatz, auf den Susannahs Innerstes gezerrt wird – von missgünstigen Dorfbewohnern, die sie zum Sündenbock erkoren haben.
Die Reduktion verfehlt nicht ihre Wirkung, zumal Beleuchter Ulrich Schneider die durchbrochene Konstruktion gekonnt ins Licht setzt. Allerdings verstärkt sie auch die Längen des Stücks, welche es trotz seiner relativ kurzen Aufführungsdauer von gut 100 Minuten durchaus hat. Getragen werden muss die Handlung umso mehr von den Darstellern. Mit der jungen amerikanischen Sopranistin Jaclyn Bermudez, einem Neuzugang im Ensemble, hat die Hagener Produktion eine überaus gute Besetzung der Titelpartie zu bieten. Bermudez vereint jugendliche Frische und lyrische Ausdruckstiefe in der Stimme mit großer Präsenz und Leidenschaft auf der Bühne. Auch die Tenöre Charles Reid als Susannahs trunksüchtiger Bruder und Jeffery Krueger als schlappschwänziger Freund hinterlassen einen durchweg guten Eindruck. Bassbariton Rainer Zaun hingegen, der den bigotten Wanderprediger Blitch singt, hat man schon weitaus stärker erlebt.
Bernhard Steiner und die Hagener Philharmoniker bringen die eingängig plakative Musik Floyds, die mit Elementen aus der amerikanischen Populärmusik vom Square Dance bis zum Jazz durchsetzt ist, wirkungsvoll zur Blüte. Viel Pathos steckt in der Partitur, aber auch viel Vitalität und unmittelbare Kraft. Opernpuristen mögen sich damit weiterhin nicht anfreunden können. Lässt man die engen Genregrenzen allerdings beiseite, bleibt „Susannah“ in jedem Fall ein Stück ergreifendes Musiktheater.
„Susannah“ I Fr 11.5., 19.30 Uhr I Theater Hagen I 02331 207 32 18
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