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Mimi Jeong und die Schlange in „Schwerkraft“
Foto: Klaus Dilger/www.tanZwebkoeln.de

„Sündenfall“ Tanz

05. November 2012

Ein kritischer Blick auf den Tanz in Köln – Tanz in NRW 11/12

Ein Abschiedsgeschenk der besonderen Art macht das Choreografen-Duo von bodytalk dem scheidenden Kölner Kulturamtschef Dr. Konrad Schmidt-Werthern. In ihrer Serie „Stadtstreicher – urbanale Räume“ geben sie wichtigen Momenten einer Stadt ein Gesicht. Deshalb widmen sie ihm die Vorstellungen ihres Tanztheaters „Schwerkraft“ am 3. und 4. November in der Alten Feuerwache, „denn hier geht es um den Tanz in Köln“. Nach einer Zwischenstation am Rhein kehrt Schmidt-Werthern wieder nach Berlin zurück, um in der Karriereleiter gleich mehrere Stufen höher zu steigen. Köln als Trittleiter für die Karriere. Hat die Kölner Kultur eigentlich nichts Besseres verdient? Tatsächlich konnte Schmidt-Werthern weder als Macher noch als Visionär beim Tanz Punkte sammeln. Das Tanztheater „Schwerkraft“ legt mutig und zutreffend den Finger in die Wunde, geht satirisch und bissig mit dem Kölner Sündenfall Tanz um. Doch für die verheerende Kölner Tanzpolitik ist das Tanztheater noch immer viel zu zahm.

Die friedliche Eingangsszene in „Schwerkraft“, dem neuen TanzTheater des Choreografen-Duo Yoshiko Waki und Rolf Baumgart währt nicht lange. Kaum haben sich die sechs Tänzerinnen und Tänzer von den kahlen Stämmen erhoben, die eine naturhaft-ursprüngliche Szenerie bilden, knicken sie auch schon ein, fallen zu Boden. Sicheren Stand finden sie nur gelegentlich. Zu einem immer heftiger werdenden Rocksound (Live-Musik: Konstantin Kutepov) widersetzen sie sich bald alle mit teils grotesken Sprüngen der Schwerkraft, fallen immer wieder zurück in ein zunehmendes Chaos von Sound und Bewegung, in dem getobt, gekreischt und geschrien wird. Später wird sich das Bewegungschaos noch zum regelrechten Tumult auf der Bühne steigern. Dann reißen sie sich die Kleider vom Leib, bietet eine Tänzerin dem Publikum die Brust zum Saugen, werden mit wippendem Glied Ballett-Exercises ausgeführt, zappelt ein Tänzer erstickend unter einer Plastiktüte, greift sich eine Performerin jauchzend in den Schritt. Die Szenen überschlagen sich. In rasendem Stakkato fliegen die Körper zum hämmernden Sound, jagen alle auf der Suche nach dem Ich sich selber hinterher. Dazwischen aber legt die Inszenierung immer wieder plötzliche Stopps ein. Dann lässt Rainer Kwasi, der Schlangenbändiger aus der Uckermark, seine Riesenboas schlängeln: Kreaturen, die es am Boden hält, die immer wieder dorthin zurückfallen. Diese Momente des Innehaltens stecken voll bissiger Symbolik und letztlich auch Momente des Nachdenkens. Jede Szene ist voll konzeptueller Metaphorik auf den Zustand des Tanzes in Köln gerichtet, denn in dem Stück geht es vor allem darum. Dessen Zustandsbeschreibung ist gekennzeichnet von Bodenhaltung, Aussaugen, Ersticken.

Später wird der TEP (Tanzentwicklungsplan) wie Manna das Himmelsbrot verteilt. Waki/Baumgart verfolgen ein metaphorisches Inszenierungskonzept, das mit relativ konkreten und sinnlich wahrnehmbaren Aktionen auf den abstrakten Bereich der Kultur- und Tanzförderung zielt. Schon bald lenken Videos mit kurzen Statements den Blick auf eine der großen Persönlichkeiten des Tanzes in Köln: James Saunders, langjähriger Solist des Tanzforum Köln, der 1984 mit anderen die Tanzprojekte Deutz gründete, um den Tanz auf seine Weise in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Was in diesem überdrehten crazy TanzTheater von Waki/Baumgart inszeniert wird, wäre nie sein Ding gewesen. Seine Form waren Sanftheit und Ruhe. Doch der szenischen Konfrontation als Such- und Inszenierungsprinzip hätte er sicher zugestimmt. Wenn die ausgeflippte Truppe keuchend am Boden liegt, erklingt aus dem Off seine sanfte Stimme: „Relax, das Becken senkrecht – und – einfach da sein“. In fast jeder Szene von „Schwerkraft“ finden sich Bezüge auf seine tänzerisch-choreografische Arbeit: das große Tuch auf dem Boden, das für Mimi Jeong zum Kleid wird – wie in Saunders Solo EYE von 1994. Oder der Turm aus Bierkästen, ähnlich dem aus Saunders „Wanderer – Space like home“ von 1995. Und so wie Saunders in seinen Tanzprojekten immer noch ein bisschen mehr forderte als möglich schien, so steht in „Schwerkraft“ der durchgeknallte Performer ganz am Rand des obersten Kastens, kurz vor dem Umkippen. Saunders selbst konnte 1996 das Umkippen nicht verhindern und stürzte während einer Tanzperformance in den Tod. Angesichts der albtraumhaft überdrehten Szenerie, den (vordergründigen) Anzüglichkeiten und derben Ausdrücken mag der Begriff „sensibel“ deplatziert wirken. Doch „Schwerkraft“ ist eine unerwartet sensible, respektvoll mit Leben und Sterben von James Saunders umgehende Inszenierung, die einen berechtigt kritischen Blick auf den Tanz in Köln anno 2012 richtet. Bodytalk, die Stadtstreicher, sind kritisch, provokant, extrem – und für Köln nötiger denn je.

Nächste Vorstellungen: 3./4.11. 20 Uhr | Alte Feuerwache, Melchiorstr. 3, Köln | 0221 97315518 | www.bodytalkonline.de

Klaus Keil

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