„Am Anfang habe ich gedacht, Tanzen ist blöd. Doch jetzt merke ich, dass Tanzen cool ist.“ Das sagt ein Jugendlicher aus Krefeld, und wer hätte nicht schon wie er den Kopf über jene Hupfdohlen geschüttelt, die da unverständliches Zeug auf der Bühne produzieren? Tanz ist keineswegs immer so einfach zu verstehen, wie unter der Hand behauptet wird. Und weil vielen Menschen der Zugang zu dieser Kunst nie so recht gelungen ist, bleibt der Tanz im Reigen der Künste nur zu oft auf die Rolle des dekorativen Beiwerks beschränkt. Selbst Millionenstädte leiden unter dem kulturellen Bildungsdefizit ihrer Ratsherren, die für den Tanz nicht viel an Haushaltsgeld springen lassen.
Deshalb bedarf es einer „180 Grad Drehung“, also eines Perspektivwechsels, der demonstriert, dass Tanz ein Stück essentielle Lebenserfahrung und ein Medium ist, mit dem sich in einer eigenen Sprache darstellen und erzählen lässt. Linda Müller und Martina Ketterer vom nrw landesbuero tanz haben die Herausforderung angenommen und den Tanz in die Schulen gebracht. Überall im Land sind die beiden im Auftrag der Gesellschaft für Zeitgenössischen Tanz Anstifter zu Projekten mit Kindern und Jugendlichen aller Schulformen. Die Idee besteht darin, Tanz in den Schulalltag zu integrieren. Von Hilden über Duisburg, Krefeld, Köln oder Essen werden auf jede Schule eigene Aktionen zugeschnitten. „Die Schüler sollen tanzen, und sie sollen lernen, Tanz anzuschauen“. Linda Müller betont, dass auch die Rezeption zum Verständnis dieser Kunst beiträgt. Neben Hip Hop und Musical-Projekten inszeniert eine Grundschule den „tanzenden Supermarkt“, ein Projekt, bei dem Kunst und Musik ineinandergreifen. „Die Kinder erleben andere Formen der Bewegung, und sie sehen, dass man mit Tanz Themen und Geschichten bearbeiten und gestalten kann“.
Die „180 Grad Drehung“ wurde zum Vorzeigeprojekt für andere Bundesländer. Statistisch rechnete man nach einer Befragung die Ergebnisse von Tanz in den Schulen hoch und kam zu traumhaften Werten. Über 80% der Beteiligten zeigten sich positiv überrascht von der Begegnung mit der Tanzkunst, und zwei Drittel wollten gleich in ein Anschlussprojekt einsteigen. Auch in jenem Moment, als Linda Müller und Martina Ketterer plötzlich die Förderung gestrichen wurde, entstanden an den Schulen weitere Projekte in Eigeninitiative. Die beiden machten dabei eine wichtige Erfahrung; normalerweise fällt der Tanz nämlich durchs Rost, wenn das Geld fehlt. „Werden die Projekte aber selbst an den Schulen entwickelt, dann finden sie auch ihre Fortsetzung“, erklärt Martina Ketterer. Dass die Kinder konkret von ihrem Tanzerlebnis profitieren, liest Linda Müller an den Aussagen der Lehrer ab. „Die stellten fest, dass sich das Sprachvermögen, das Gruppenverhalten, die gegenseitige Wertschätzung und die Tatsache, dass sich die Schüler einfach mehr zutrauten, deutlich verbessert haben“, sagt sie. Eines Tages wird sich dann vielleicht auch in Deutschland wie heute schon in Belgien und Holland Tanz als eine Daseinsform
etabliert haben. Das Tanzhaus in Düsseldorf ist dafür ein gutes Beispiel, denn dort kann man erleben, wie von den Vorschulkindern bis zu den Senioren alle die Sprache des Körpers als Ausdrucksmöglichkeit erleben. Im Grunde sind das alles keine neuen Erkenntnisse, schon in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts existierte die Forderung, die Tanzkunst in die Schulen zu tragen. Nur muss man es auch tun, die „180 Grad Drehung“ ist da ein überzeugender Ansatz. Inzwischen arbeitet man schon daran, dass Tanz einmal ein Abiturfach werden kann. Ist die Schule nicht dazu da, die Fähigkeiten eines jeden Kindes zu fördern? Und es klingt doch gut, wenn die 11jährige Nina sagt: „Am Tanzen gefällt mir besonders gut, dass ich so sein kann, wie ich bin.“
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