Wenn man die Musical-Saison 2016 Revue passieren lässt, so fand die Entdeckung des Jahres nicht in den großen Musical-Tempeln statt, sondern im Konzertsaal der Waldorfschule Münster. Dort beantwortete das Freie Musical-Ensemble Münster die Frage, ob sich eine Holocaust-Geschichte als Musical-Stoff eignet, mit einem entschiedenen „Ja“.
Denn das von Shuki Levy (Musik), David Goldsmith (Songtexte) und Glenn Berenbeim (Buch) 2008 am Londoner Westend uraufgeführte Musical „Imagine This“ trivialisiert keineswegs das Leiden der Juden unter der Nazi-Herrschaft: Im Warschauer Ghetto probt eine Laienspielgruppe das Stück „Masada“, das vom Aufstand der Juden um 70 n.Chr. in der von den Römern umzingelten, gleichnamigen Felsenfestung, handelt. So will die Truppe etwas Hoffnung in die Herzen ihrer Gemeinde pflanzen...
Beim Publikum ist von Anfang an eher Beklemmung angesagt, wenn das 46-köpfige Orchester und die 60 Chormitglieder mit Judenstern auftreten. Auch wenn das fast 4-stündige Stück seine Längen hat – man hat sich unverständlicherweise für die Originalfassung und nicht für die gekürzte Neufassung entschieden – hält einen die Spielfreude des Ensembles und des Orchesters doch bei der Stange, die beide vom künstlerischen Leiter Ingo Budweg „dirigiert“ werden. Lässt er dabei Levys an symphonische Filmmusiken erinnernde Partitur in präzisem Sound erklingen, so vermisst man diese straffe Hand bisweilen bei der Schauspielerführung. Nur bei Melvin Schulz-Menningmann hat man den Eindruck, als stände er schon ewig auf der Bühne: Sein SS-Hauptsturmführer Blick wirkt so beängstigend, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Nun sind die Stadttheater in der Pflicht, dieses beeindruckende Werk unters (Musical-)Volk zu bringen.
Für die Kölner Kammeroper komponierte Intendantin Esther Hilsberg selbst ein Musical. Warum sie sich für das schon einmal vertonte „Les Miserables“ entschied, bleibt schleierhaft. Zumal das von Holger Pototzki und Bianca Hein verfasste Libretto zu „Barricade“ dem Stoff keinerlei neue Reize abgewinnt. Sie steigen einfach ein wenig später, mit Fantines Tod, in die Geschichte ein und erweitern sie lediglich durch die Figur von Marius‘ Onkel Gillenormand, den Tobias Strohmaier – befreit von jeglicher Schauspielführung (Regie: Christian Stadlhofer) – als Knallcharge gibt. Das größte Problem dieser „Neuschöpfung“ ist aber das von unmotivierten Handlungssprüngen wimmelnde Libretto, das sich wenig um die Entwicklung der Charaktere kümmert. Warum man in die Hosen von Gavroche eine Frau (Wibke Wittig) gesteckt hat, erschleißt sich einem, wie so vieles, nicht. Gesanglich überzeugend ist eigentlich nur Lara Grünfeld als heimlich in Marius verliebte Eponine. Was bleibt, ist die von Dirigentin Inga Hilsberg mit den Kölner Symphonikern schmissig intonierte Musik, die zwar kein großer Wurf ist, aber noch das Beste an dieser nun auch auf Tournee gehenden „Zweitverwertung“.
„Imagine This“ | R: Ingo Budweg | keine weiteren Vorstellungen
„Barricade“ | R: Christian Stadlhofer | Tourdaten: www.deutsche-musical-company.net
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