Ich denke, kaum jemand hat es schon mal erlebt, dass die Angestellten eines Lokals bei seinem Auftauchen in Verzückung geraten und über und unter den Tischen singen und tanzen und auch noch ein Lied über den Gast anstimmen. Viele würden wahrscheinlich auf dem Absatz umdrehen und lieber eine anonyme Pizzabude betreten. Nicht so in der Welt des Musicals. Hier wird gesungen und getanzt, geflirtet, geliebt und die absurdesten Dramaturgien durchlebt.
Bei „Hello, Dolly!“ das in der Kölner Kammeroper im Walzwerk Premiere hat, ist das natürlich nicht anders. Und hier passt natürlich auch die etwas befremdliche Anfangsszenerie. Dolly Levi, New Yorker Witwe und Heiratsvermittlerin, hat sich in den Auftraggeber verguckt und lädt den in ein vornehmes Restaurant ein, wo dann der ever-greeny-ohrwurmige Titelsong „Hello, Dolly!“ das Lokal aufmischt. Nebenbei, quasi als Plot des Musicals, bringt sie auch noch drei weitere Paare fröhlich unter die Haube. So war das eben im Amerika der frühen 1960er Jahre. Vietnam und Hippies waren noch weit weg und die Prüderie suchte köstliche Ventile. Thornton Wilder machte aus einer damals schon hundert Jahre alten Farce des Engländers John Oxenford ein neues Stück („The Matchmaker“), Jerry Herman ein Musical.
Die temperamentvolle Witwe aus New York ist natürlich eine Paraderolle für Hollywood-Diven, die auch singen können, so wundert es nicht, dass Barbra Streisand und Bette Midler der, wie sagt man in Deutschland, „betörend attraktiven“ Heiratsvermittlerin Dolly ihre Stimme geborgt haben. Aber auch bei den Männerrollen ließ man sich in Hollywood nicht lumpen, auch Louis Armstrong und Walter Matthau spielten 1969 im berühmten Gene-Kelly-Film mit. Seit der Zeit gehört „Hello, Dolly!“ zu den international erfolgreichsten Musicals aller Zeiten. Witzige Dialoge, eine durchaus stringente Handlung, vor allem aber die Songs von Jerry Herman lassen einen den Abend lang durch das Kölner Walzwerk swingen und man lernt: Eheanbahnung ging mal ohne Internet!
„Hello, Dolly!“ | R: Holger Müller-Brandes | 18.(P), 25.5. 19.30 Uhr, 26., 27.5., 2.6. 19 Uhr, 3.6. 16 Uhr | Kammeroper Köln | 02238 956 03 03
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