Ödön von Horváths Roman spielt in den 1920er Jahren und setzt sich satirisch mit dem Bild des Spießers auseinander. Im Interview sprechen Regisseur Sebastian Kreyer und Schauspieler Daniel Breitfelder über die Inszenierung am Theater der Keller.
choices: Herr Kreyer, Herr Breitfelder, als „Spießbürger“ bezeichnete man im Mittelalter Stadtbürger, die sich zur Verteidigung gegen Angreifer von außen nur einen Spieß leisten konnten. Wer ist heute ein Spießer?
Sebastian Kreyer (SK): Ich hätte diese Frage vor 20 oder 30 Jahren anders beantwortet. Ich hätte gesagt, das sind die Eltern, die Langweiler, die Systemkonformen. Heute merke ich, dass ich nicht mehr ausschließen möchte, selbst in manchen Dingen spießig zu sein. Das Spießige ist für das Theater eine Inspirationsquelle. Man hat auch das Gefühl, dass wir in einer Zeit leben, wo sich die Gesellschaft extrem spaltet. Um dem als Künstler etwas entgegenzuwirken, dürfen wir nicht so agieren, also ob diese Attitüde uns nicht betrifft.
Daniel Breitfelder (DB): Es gibt den Klischeespießer, der den Rasen mit der Nagelschere schneidet. Spießig ist aber sehr negativ konnotiert. Ich glaube, dass es etwas mit Ankommen zu tun hat. Scheinbar spießige Rituale und teilweise wunderliche Gewohnheiten sind dennoch enorm wichtig für einen ausgeglichenen Geist.
SK: Manchmal glaube ich, dass die jüngere Generation spießiger ist als wir es als Mitte-Vierzigjährige sind. Ich habe zumindest selten das Gefühl, dass die jungen Leute heute wild und frei sind. Aber wie auch? Sie sehen sich einer Welt ausgesetzt, in der zu leben nicht einfacher geworden ist. „Spießer“ sollte nicht als Kampfbegriff von jemandem verwendet werden, der glaubt, er sei frei von allen Konventionen. Wer ist schon wirklich individuell und ein Freigeist?
In welchen Situationen sind Sie denn spießig?
DB: Ich erwische mich immer wieder dabei, Stofftaschentücher zu bügeln, so wie es meine Oma getan hat. Das hat aber auch etwas mit Wertschätzung zu tun.
Sie betonen die Komik des Spießers, weisen aber auch daraufhin, dass er faschistischen Nährboden bietet. Muss der Humor dann notwendigerweise in den Zynismus kippen?
SK: Nein. Ich würde mich auch von dem Druck frei machen wollen, mit dieser Inszenierung etwas gegen rechte Tendenzen ausrichten zu können. Wir müssen uns vielmehr selbst hinterfragen, was unser Beitrag gegen gesellschaftliche Spaltungen ist. Es geht darum, zu zeigen, wie man Brücken bauen kann. Ein Agitprop gegen rechts fände ich arrogant und blind gegenüber der Tatsache, dass das Theater nicht das geeignete Medium ist, um dagegen etwas auszurichten. Ich bin nicht desillusioniert, aber sowas würde ich mir nicht auf die Fahnen schreiben.
Wie relevant ist Ödön von Horváths Text von 1930 rund ein Jahrhundert später?
DB: Es ist auf jeden Fall empfehlenswert, den Roman zu lesen.Horváths Schreibstil ist ein Genuss. Das Buch beinhaltet Frohsinn, schlägt aber in überraschenden Momenten heftig zu und drückt einem gegen die Gurgel, wenn die Schicksale der einzelnen Figuren beschrieben werden. Es ist ein unwahrscheinlich moderner Roman.
SK: Ich habe das Gefühl, dass die Fassbinder-Sprache (Rainer Werner Fassbinder, Regisseur und Schauspieler, Anm. d. Red.) eine Weiterentwicklung der Horváth-Sprache ist. Der Roman ist witzig aber auch total berührend und passt in jede Zeit.
Der Untertitel „Ich bin eigentlich ganz anders, ich komme nur so selten dazu“ konterkariert den Spießer. Warum ist dieser Zusatz wichtig?
DB: Das ist ein Horváth-Zitat. In seiner Zeit gab es eine Menge Zwänge wirtschaftlicher und politischer Natur. Es gab Zustände, etwa während der Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik, die einen dazu veranlassten, alle möglichen Arbeiten anzunehmen. Der Untertitel hat Humor und ist außerdem etwas rätselhaft. Er öffnet eine andere Ebene. Für uns ist es zudem wichtig, dieses Stück so authentisch wie möglich zu inszenieren. Der gesamte Titel wirkt in dieser Hinsicht, weil er eine Möglichkeit in sich trägt, sich selbst etwas näher zu kommen.
Ihr Ensemble ist entgegen der mit Spießern verbundenen Assoziation verhältnismäßig jung. Warum haben Sie sich gegen ältere Akteure entschieden?
SK: Zunächst empfinde ich die Verdichtung auf wenige Figuren als hilfreich. Da wir uns alle gut kennen, sind die Arbeitsweisen eingeübt. Es wäre schwer für Personen, die von außen neu dazukommen, damit zurechtzukommen. Es ist schön, nicht immer alles erklären zu müssen, weil man sich blind versteht und vertraut miteinander ist. Es hat also nichts mit einem Vorbehalt gegen ältere Kolleg:innen zu tun.
DB: Wir wissen halt, was wir wollen. Da kann man schon zaubern.
Der ewige Spiesser – Oder: Ich bin eigentlich ganz anders, ich komme nur so selten dazu | 14. (P), 15.3., 9., 10., 11.4. je 20 Uhr | Theater Der Keller | 0221 31 80 59
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