Freiheit. Welch ein Wort. Und welch ein Halluzinogen. Als Aufputschmittel der Romantiker:innen öffnet es seit Anbeginn der Zivilisationen die Pforten zu Gegenwelten. Dort locken die Fluchträume von den Realitäten, die das Individuum (vermeintlich) beschränken und ins Korsett einer Allgemeinheit einzupassen versuchen. In demokratischen Staatsformen bleibt in der Regel auch den Apologeten Bewegungsspielraum für verschiedenste Varianten der Selbstverwirklichung. Die Würde dagegen ist etwas anderes. Sie bestimmt das Seelenheil aller Geschöpfe. Sie ist unverhandelbar. Die Instrumentalisierung des Freiheitsbegriffes für egozentrische Lebensführungen oder gegen humanistische Werte huldigt dem Extremismus. Dem etwas Positives abzugewinnen, fällt selbst in Form der Liebe schwer, die unter dieser Voraussetzung mitunter zum Fanatismus, ja, zur Besitzergreifung wird.
Herzlich willkommen beim „Reichsbürger“! Denn auch dieser liebt. Leidenschaftlich sogar. Seine Fantasterei (wohlwollender wäre „Überzeugung“) nämlich, dass die Bundesrepublik Deutschland als Staat nicht existiere, diese lediglich ein wirtschaftliches Konstrukt zur Ausbeutung darstelle und deren Rechtsordnung daher abzulehnen sei. Der Erleuchtete beruft sich natürlich auf seine Freiheit, die von den Organen des Rechtsstaats bedroht wird.
Die Drohung ist per se gefährlich. Gefahren darf man sich erwehren. Die Selbstverteidigung ist demnach existentielle Pflicht des Menschen, wenn er nicht untergehen will. Auf einer Fläche zwischen diesen neuralgischen Punkten begegnen die Theatergänger:innen dem „Reichsbürger“ von Annalena und Konstatin Küspert. Zunächst auf der Straße in der belebten Kölner Innenstadt. Per Funkkopfhörer sendet Christian S. freundliche Worte an seine Zuhörerschaft. Er meint es gut mit seinem Publikum. Der Ton ist moderat, fast schon vertraulich. Doch der Inhalt verwendet unpopuläre Erzählungen. Demnach herrscht die Tyrannei. Überall Ausbeutung, Enteignung und subtile Unterdrückung. Der Verführer lotst seine Gefolgschaft in das Haus der Architektur am Josef-Haubrich-Hof. Da wartet er. Breitbeinig und süffisant lächelnd klärt der Wissende über Selbstverwaltung und Naturzustände auf. Bald verteilt er neue Pässe, bewirbt die Ausgabe von Staatsanleihen auf seinen Namen (zahlbar an ihn).
Dann geht alles sehr schnell. Die Stimmung kippt. Kritik keimt auf. Das mag der nette Herr S. nicht. Wer nicht spurt, wird des Raumes verwiesen. Wer nicht gehen will, erhält eine Aufforderung mit vorgehaltener Schusswaffe – der ultimativen Freiheit zur Selbstbehauptung. Solodarsteller Michael Meichßner gelingt unter der Regie von Stefan Herrmann ein entlarvendes Denkmal, das mit allen Zutaten der Angst errichtet wurde. Obgleich den meisten Personen im Publikum der Inhalt des Stückes vertraut ist, zünden die Werkzeuge „einfühlsamer Intellekt“ und „Eigenschutz mittels Terror“ vortrefflich und lassen erahnen, warum extremistische Bewegungen wie etwa die sogenannten „Reichsbürger“ oder die AfD eine starke Gefolgschaft verzeichnen. Neujahrswunsch: Weitere Aufführungen dieser explosiven Produktion.
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