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Ronny Miersch
Foto: Stefan Hartmann

„Wir wissen nicht viel über das Universum“

26. März 2024

Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24

1979 veröffentlichte Max Frisch die Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. Ein Spätwerk, das Alter und Tod eines Mannes mit einem tagelangen Wolkenbruch in einem Bergdorf verbindet. Regisseur Ronny Miersch bringt das Buch am Theater der Keller auf die Bühne.

choices: Herr Miersch, Max Frisch beschreibt einerseits die Geschichte von Herrn Geiser, der einen Schlaganfall erleidet und an Demenz erkrankt, und andererseits eine Naturkatastrophe im Tessin, nämlich ein Unwetter: Wie hängen die beiden zusammen?

Ronny Miersch: Bei mehrfachem Lesen merkt man, dass dieses Unwetter, von dem er da spricht, auch gleichzeitig seinen eigenen Zustand beschreibt. Wenn er also aus dem Fenster schaut und Angst hat, dass ein Hang rutscht, dann lässt sich das auf seine körperliche und geistige Konstitution beziehen. Konkret: Das Rauschen eines Baches tritt in Verbindung mit einem Abend, an dem das Gedächtnis nicht richtig mitmacht. Und genau das macht diese Erzählung sehr spannend.

Immer mehr Menschen leben in Städten. Auch Herr Geiser ist aus Basel in das kleine Dorf gezogen, dessen Bewohner das Unwetter allerdings nicht so problematisch sehen. Geht es auch um eine Entfremdung der Städter von der Natur?

Für mich hat es nicht unbedingt mit dem Gegensatz von Stadt und Land zu tun, sondern eher damit, dass jemand einen Zustand der Natur auf sich bezieht, was die Menschen in seinem Umfeld nicht tun. Die Dorfbewohner sagen beispielsweise, dass immer mal wieder Hänge gerutscht sind, aber dann dort nie wieder gebaut wurde. Das wird halt alles eher heruntergespielt. Die Angst von Herrn Geiser hat weniger mit seiner Herkunft aus der Stadt zu tun, als der Verbindung, die er zwischen seinem Zustand und seiner Umwelt herstellt. Und die unterscheidet sich sehr von der der anderen Bewohner des Dorfes.

Wie unterscheidet sich denn dieses jeweilige Verhältnis zur Natur?

Herr Geiser hat lange Zeit das Gefühl, dass es ausschlaggebend wäre, wie er sich zur Natur verhält, und dass es ist die Natur „beeindrucken“ würde, dass er existiert. Im Laufe der Erzählung kommt er zu der Erkenntnis, dass es die Umwelt nicht interessiert, ob er als Mensch noch da ist. Die Welt dreht sich einfach weiter.

Was hat das mit unserem Verhältnis zur Natur zu tun?

Die Frage müssen wir uns auch stellen: Was bedeuten wir für die Umwelt und was bedeutet die Umwelt für uns? Und eins kann man relativ klar sagen: Wir haben uns so weit von der Natur entfernt haben, wie es irgend geht. Wir haben gar kein Gefühl mehr zur Natur. Und vielleicht ist das so ein bisschen der Unterschied zwischen Herrn Geiser und den Dorfbewohnern. Während sie die Veränderungen der Natur als normal empfinden, hat das für Herrn Geiser alles eine riesige Bedeutung, sodass er sich immer mehr in seine Angst hineinsteigert, Dinge zu vergessen und vergessen zu werden, aber auch sein Wissen zu verlieren. Er nimmt sich generell als Mensch einfach sehr wichtig. Als Max Frisch seine Erzählung geschrieben hat, lagen die Dinge allerdings noch etwas anders. Wir beschäftigen uns mittlerweile sehr mit dem Thema Klimawandel und stellen uns ständig die Frage, was wir tun können. Das war zu Max Frischs Zeiten noch etwas anders.

Wie gehen Sie mit dem Text um: Behandeln Sie ihn als Monolog oder verteilen Sie ihn auf mehrere Darsteller:innen?

Das hat mich am meisten beschäftigt. Für mich ist die Macht des Schauspielers das Interessanteste. Was kann der Schauspieler alles herstellen, ohne dass etwas an Requisiten oder Bühnenbild da ist? Wenn ich den Text also nur über das Schauspielerische lösen will, brauche ich mehrere Schauspieler. Und dann hat mir Heinz Simon Keller, der Intendant, erzählt, dass es in der Schauspielschule des Theaters der Keller viele auch tänzerisch und musikalisch sehr begabte junge Student:innen gibt. Und da ich schon mal sehr gut mit der Schauspielschule zusammengearbeitet habe, habe ich ein Konzept für fünf junge Frauen und einen älteren Mann entwickelt. Ein Konzept, das aber auch eine interessante Überlegung miteinschließt: Man kann die Geschichte nämlich auch so lesen, dass all das, was da passiert, vielleicht nur in Herrn Geisers Kopf stattfindet, dass also alles nur ein Traum, eine Phantasie ist.

Was bedeutet das darstellerisch?

Wenn man das konsequent weiterdenkt, dann muss man letztlich von einer leeren Bühne ohne jedes Requisit ausgehen: Wir haben auf diese leere Bühne einen Stuhl gestellt und zusammen mit diesen fünf jungen Frauen und dem älteren Mann den Text choreographisch und tänzerisch und auch dialogisch entwickelt. Herr Geiser tritt also in Dialog mit anderen Figuren, es gibt die Dorfbewohner, es gibt die Wanderung am Ende, es gibt die Schafe. Es findet alles statt, aber immer so, dass man nie genau weiß,ob all das wirklich existiert oder nur als Gedanke in seinem Kopf stattfindet.Also wir versuchen, die ganze Geschichte nur über die Schauspieler:innen und ihre Körper und Stimmen herzustellen. Man braucht auf der Bühne des Theaters letztlich nichts als die Schauspieler:innen, um riesige Welten zu erschaffen. 

Herr Geiser sammelt lauter kleine Wissensschnipsel aus der Bibel und aus dem Brockhaus und pinnt sie an die Wand. Wir dagegen sammeln unendliche Datenmengen. Haben Herr Geiser oder wir dadurch wirklich ein Verständnis für das, was Natur eigentlich ist?

Das ist genau die Frage, die Herr Geiser am Ende stellt: Was verspreche ich mir von diesem ganzen Wissen und was habe ich damit vor? Habe ich dafür eine Verwendung oder sammle ich das nur aus der Angst, dass ich vergesse oder dass ich vergessen werde? Und das müssen wir uns angesichts all der Daten, die wir schon seit 50 Jahren sammeln, auch fragen: Haben wir dieses Wissen konkret umgesetzt? Die Antwort kann letztlich nur lauten: zu langsam und wahrscheinlich zu spät. Ich möchte nicht zu skeptisch sein, aber ich glaube, dass wir einen gewissen Punkt schon überschritten haben, an dem uns das Ansammeln von Daten und Wissen noch weiterhilft. Wir müssen mit dem, was wir jetzt haben, handeln. Also die Technologie, die wir haben, viel stärker einsetzen.

Für mich stellt sich die Frage, ob das überhaupt Wissen über die Natur ist, was wir haben oder was Herr Geiser sammelt.

Ich bin ehrlich gesagt der Meinung, dass wir nicht besonders viel wissen über unser Universum. Aber wir hätten zumindest schon so viel, dass es reichen würde, um das Leben auf unserem Planeten im Einklang mit der Natur zu gestalten. Auch Herr Geiser interessiert sich für seine Umwelt und für alles drumherum. Er fragt beispielsweise, was eigentlich die Bienen machen, wenn es immer regnet? Aber man hat das Gefühl, dass er letztlich machtlos ist. Er ist von einer riesigen Naturgewalt umgeben, die er nicht versteht. Und je mehr er versucht an Wissen zusammenzubekommen, desto mehr versteht er, dass er eigentlich nie genug wissen kann. Ein bisschen wie Faust, wenn man so will. Das steckt alles in dieser Erzählung, die so unschuldig daherkommt.

Der Mensch erscheint im Holozän | R: Ronny Miersch | 5. (P), 6., 27.4. | Theater der Keller | 0221 31 80 59

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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