Das NN Theater zeigt bei seinem Freiluftfestival u.a. die neue Produktion „Peer Gynt“ nach Henrik Ibsen. Darin will ein Egozentriker und notorischer Lügner prekären gesellschaftlichen Verhältnissen entfliehen. Also macht er sich auf in fremde (Traum-)Welten, wird Kapitalist und ist doch immer auf der Suche nach sich selbst. Ein Gespräch mit Irene Schwarz, Schauspielerin und Mitgründerin des NN Theaters.
choices: Frau Schwarz, Peer Gynt ist ein Hochstapler, ein Kapitalist, ein Sklavenhalter – was ist so attraktiv an der Hauptfigur von Ibsens Drama?
Irene Schwarz: Also sicherlich der Umgang mit der Lüge, mit der Erfindung. Ibsens Stück ist ein Gleichnis dafür, wie man durch die Welt geht, Herausforderungen annimmt und sich auch auf Irrwege begibt. Wir sind uns selber auch nicht ganz im Klaren, ob wir diesen Peer Gynt nun mögen oder nicht. Für uns war dieses Wahnsinnige und Wilde, durch das er stolpert, auch eine große Herausforderung. Das offen zu halten ist ganz gut bei so einem Märchen.
Apropos Märchen: Peer begibt sich angeblich auf eine Weltreise. Man weiß aber nicht so genau, ob das eine reale oder eine fiktive Weltreise ist, die er sich in seiner Fantasie ausmalt.
Wir machen Volkstheater und das bedeutet durchaus auch eine gewisse sinnliche Konkretheit auf der Bühne. Doch bei „Peer Gynt“ haben wir ganz bewusst sehr vieles offen und ambivalent gelassen. Das ist auch nicht anders möglich bei diesem Text, der zunächst als Geschichte in einem Dorf in Norwegen beginnt und dann mit Stationen in Amerika, Ägypten und sogar im Irrenhaus immer verrückter wird. Deshalb lassen wir offen, ob das alles nur in seinem Kopf passiert. Das Stück fängt ja mit dem zentralen Satz „Peer, du lügst!“ an. Hat er wirklich gelogen? Wir sind doch selbst in unserer Realität auch ständig mit Lügengeschichten konfrontiert, wie wir gerade in der Folge des Trump-Attentats erlebt haben.
Können wir überhaupt ohne Lüge leben?
Ich glaube nicht, auch wenn uns das vom Christentum eingebläut wurde. Wir als Theaterschaffende gehen doch ständig mit Lügen um, wenn wir uns die Identität anderer Figuren aneignen. Die Frage ist letztlich, warum gelogen wird: Peer und seine Mutter entfliehen ihrer prekären Situation, indem sie Geschichten von Böcken in den Bergen erfinden und dabei einen Riesenspaß haben. Das sind sehr schöne Lügen. Dann gibt es aber auch entsetzliche, betrügerische, ausbeuterische, frauenverachtende Lügen im Stück. Einerseits kann Peer ziemlich mies sein, wenn beispielsweise bei der Dorfhochzeit eine Braut entführt und sie nach dem One-Night-Stand einfach abbürstet oder als knallharter Kapitalist sich gebärdet. Dann aber hat seine verzweifelte Identitätssuche auch wieder etwas Charmant-Pubertäres, das uns für ihn einnimmt. In der Annäherung an die Figur hat uns geholfen, dass wir drei Schauspielerinnen aus drei Generationen sind, die alle Peer und viele weitere Figuren spielen. Das hat uns davon entbunden, uns auf seine Seite zu schlagen und eine Wertung abzugeben – es ist Aufgabe des Publikums, einen Haltung zu Peer zu finden.
Alle Performerinnen stehen in „Peer Gynt“ ohne Pause auf der Bühne. Wie anstrengend ist das?
Wir haben gemeinsam mit dem Regisseur Rüdiger Pape den Text auf eine Stunde und vierzig Minuten herunter gekürzt, aber diesmal ist das Tempo schon extrem. Auch weil wir nur zu dritt sind und ständig die Rollen wechseln. Mehr als 30 Sekunden für den Rollenwechsel haben wir eigentlich nie.
Vor allem eine Figur wie Solveig, die lebenslang auf Peer wartet, hätte ich vom Autor von „Nora“ oder „Hedda Gabler“ doch so nicht erwartet.
Wir haben in unserem Stück „Odyssee“ eine Frau – Penelope – gezeigt, die 20 Jahre auf Odysseus wartet. Das Thema wollten jetzt nicht noch einmal bespielen. Nicht schon wieder eine Frau, die auf ihren Mann wartet! Und dann kommt Peer Gynt, alt und gebrochen nach Hause, geläutert durch die Liebe einer Frau, Gott kommt auch noch ins Spiel. Wir haben uns für ein anderes Ende entschieden und uns auf den Vorgang konzentriert, was es bedeutet, wenn Peer in sein Dorf zurückzukehrt. Gerade vor dem Hintergrund, dass Peer über Jahre rauszufinden versucht, wer er ist. Im Stück kommt bekanntlich die berühmte Identitäts-Metapher von der Zwiebel vor, die ausschließlich auch Schalen besteht und keinen Kern hat.
Was bleibt, wenn ich Schale um Schale ablöse? Wer bin ich dann?
Das ist die Frage, die das Stück letztlich auch nicht beantwortet. Haben wir einen Wesenskern oder entwickelt sich alles in übereinander geschichteten Schalen? Also die Schale des Kindes, die Schale der liebenden Frau, die Schale der Mutter. Vielleicht ist es gar nicht so schrecklich, keinen Kern zu haben. Wir haben als Bühnenbild eine besondere Holz-Skulptur. Wenn sie eingepackt ist, sieht sie ein wenig wie eine Zwiebel aus; später kann die Skulptur auch als Schiff dienen oder sogar als Weltkugel gedeutet werden. Diese Mehrdeutigkeit unterstreichen wir auch dadurch, dass wir das Stück zeitlich nicht verorten. Und wir bedienen spielerisch immer wieder unterschiedlichste Genres, beispielsweise bei den Szenen in Amerika. Vieles wird dabei über das Kostümbild vermittelt, das unsere langjährigen Partnerinnen Claus Stump und Andrea Uebel entworfen haben. Wir haben sehr prominente Grundkostüme, die mit vielen Accessoires verändert werden.
Sie haben diesmal auch einen Chor dabei?
Das haben wir schon bei zwei Stücken ausprobiert: Bei den „Nibelungen“, die wir über 15 Jahre im Repertoire hatten, war das irrsinnig erfolgreich. Und auch bei „Luther“ hatten wir einen Chor dabei. Wir arbeiten dabei meist mit Chören aus dem jeweiligen Veranstaltungsort zusammen. Und das macht nicht nur großen Spaß, sondern verbindet uns als Tourneetheater auch ein bisschen mit den Städten, in denen wir spielen.
Was bedeutet es, ein Stück wie „Peer Gynt“ als Freilufttheater zu spielen?
Wir versuchen, immer das große Bild zu entwerfen. Bei Peer Gynt spielt das Surreale eine große Rolle. Das funktioniert auch im Volkstheaterkontext erstaunlich gut, auch wenn wir uns da erst reinfinden mussten. Wie geht man beispielsweise mit den Szenen in der Irrenanstalt um? Oder was macht man mit den hochphilosophischen Diskursen? Im Freiluftkontext ist die Konzentration eine andere als in geschlossenen Theaterräumen. Es geht allerdings draußen weit mehr, als man denkt. Letztlich ist es eine Frage der Präsenz im Spiel. Wir haben inzwischen viele Jahre Erfahrung und sind es gewöhnt, uns emotional mit dem Publikum zu verbinden. Dabei haben wir eine Ästhetik entwickelt, die ich selbst Schauspielertheater nenne. Das heißt mit einer ganz starken Intention der Spielerin für die Geschichte und natürlich einem großen Spiel. Draußen ist der Raum weit und offen und zu Beginn der Vorstellung ist es noch hell. Ich kann das Publikum sehen und so noch einmal ganz anders Kontakt aufbauen. Draußen geht viel mehr als man denkt, auch leise Töne und komplexe Situationen. Es muss nicht immer Spektakel, laut und grob sein.
Peer Gynt | R: NN Theater / Rüdiger Pape | Friedenspark | 7. - 9.8. | Waldbad Dünnwald | 6.9. | 0176 20 72 78 57
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