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Lara Pietjou und Daniel Schüßler
Foto(l.): Danie Burgmüller, Foto (r.): Nathan Ishar

„Mir war meine jüdische Identität nie besonders wichtig“

29. August 2023

Lara Pietjou und Regisseur Daniel Schüßler über „Mein Vater war König David“ – Premiere 09/23

In der deutschen Erinnerungskultur an die Shoa sind einige Dinge nicht vorgesehen: Juden und Jüdinnen, die Rache nehmen wollen zum Beispiel. Oder solche, die sich für ihre Identität gar nicht interessieren. Die Schauspielerin Lara Pietjou hat nach dem Tod ihres Vaters eine VRS-Kassette gefunden, die zu einer neuen Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Identität geführt hat. Das Analogtheater macht nun daraus ein Stück. Ein Gespräch mit Lara Pietjou und Regisseur Daniel Schüßler.

choices: Frau Pietjou, Herr Schüßler, wie ist es, wenn man plötzlich entdeckt, dass man jemand anderes ist, als man ursprünglich dachte?

Lara Pietjou: Ich wusste, dass meine Familie väterlicherseits jüdisch war. Ich wusste auch, dass mein Urgroßvater in Auschwitz umgebracht worden ist. Aber viel mehr wusste ich nicht. Im Erbe meines Vaters habe ich eine VRS-Kassette mit einem dreistündigen Interview entdeckt, dass Steven Spielbergs Shoa-Foundation mit meiner Oma geführt hat. Darin erzählt sie ihre Familiengeschichte bis zum Holocaust, wie sie sich vor den Nazis versteckt hat, wie sie befreit wurde und dann nach Südafrika emigriert ist. Aufgrund dieser Entdeckung habe ich begonnen, mich mit meiner jüdischen Geschichte näher zu beschäftigen. Dass das eine Identitätskrise ausgelöst hätte, kann ich aber nicht sagen.

Daniel Schüßler: Lara ist dann zu mir gekommen und hat mir die Kassette gezeigt. Das hat den Anstoß zu unserem aktuellen Projekt gegeben, in dem wir erforschen, was Identität heißt und wie du deine jüdische Identität lebst. Am Ende geht es um zwei Themen. Wie wirkt sich Geschichte transgenerational auf uns als Gesellschaft aus? Und: Was bedeutet eigentlich Identität? Ist das etwas Fluides oder etwas Vorbestimmtes? Und was bedeutet es, wenn ich mich für meine jüdische Identität gar nicht interessiere?

Wie wird im Stück diese Recherche denn vorangetrieben?

LP: Wir erforschen die Geschichte meiner Oma und die meines Vaters, vor allem aber wie sich die Geschichte dieser beiden Generationen auf mich auswirkt. Ich weiß nicht viel und habe auch meinen Familie nicht viel gefragt. Jetzt ist es fürs Fragen zu spät, meine Großeltern und Eltern sind tot. Außer dem Video gibt es noch ein kleines Buch, in dem meine Oma ihre Lebensgeschichte für meinen Vater niedergeschrieben hat. Auch meine Mutter hat einiges über meinen Vater aufgeschrieben.
DS: Ein Teil unserer Recherchen bestand in der Befragung dieses Familienmaterials. Dann haben wir Literatur über Identität gelesen. Und der dritte Block bestand darin, dass wir viele Menschen mit jüdischer Identität befragt haben. Wobei wir uns weniger auf die Vergangenheit als auf die Vielfalt jüdischen Lebens und jüdischer Identität in der Gegenwart konzentrieren. Am Ende mündet jede Aufführung in ein Gespräch mit Gästen wie dem Filmemacher Dany Levy, der aktivistischen Feministin Debora Antman oder dem PsychotherapeutenPeter Pogany-Wnendt, mit denen wirüber jüdisches Leben heute in Deutschland sprechen.

Wie lässt sich das auf die Bühne bringen?

DS: Zu Beginn gibt es eine Videoinstallation, die verschiedene Perspektiven auf Identität zeigt. Dann zoomen wir ganz konkret in die Geschichte von Lara Pietjou und ihrer Familie. Da geht es auch um die Shoa selbstverständlich, aber vor allem darum, welche Auswirkungen das auf Laras Vater und sie selbst hat. Aber auch darum, was das mit Identität allgemein zu tun hat. Der Abend mündet dann in der Gegenwart, in einem gemeinsamen Essen, bei dem wir wie gesagt mit unterschiedlichen Gäst:innen über das Stück und über Identität reden.

Wie hat Ihr Vater seine jüdische Identität gelebt?

LP: Mein Vater hatte eine bipolare Erkrankung und hat seine jüdische Identität eigentlich nur ausgelebt, wenn er manisch war. Dann hielt er sich für König David oder Gustav Mahler. Im normalen Leben gab es keine jüdische Identität. Keine jüdischen Feste, keinen Shabbat, keine Besuche in der Synagoge, gar nichts. Mir wurde keine jüdische Identität vorgelebt und deshalb war mir diese Identität auch nicht besonders wichtig.

DS: Man muss dazu ergänzen, dass bereits Laras Großmutter in Südafrika das Jüdische völlig abgestreift hat wie eine alte Haut und zum Christentum konvertiert ist. Ihren Sohn hat sie dann christlich erzogen. Vor diesem Hintergrund ist es dann umso interessanter, warum und wie sich seine jüdische Identität in der bipolaren Störung dann wieder Raum geschaffen hat.

Wie hat sich das dann bei Ihnen niedergeschlagen, Frau Pietjou? Welchen Weg haben Sie in der Auseinandersetzung mit Ihrer jüdischen Identität eingeschlagen?

LP: Ich finde es wahnsinnig interessant, mich dem zu stellen. Wenn ich also mein Leben anschaue, dann frage ich mich, warum ich zunächst Krankenschwester geworden bin. Warum suche ich mir einen Beruf aus, in dem ich Menschen helfen kann? Außerdem: Was hat meine Angststörung damit zu tun? In meiner bisherigen Therapie haben wir das nicht rausgefunden. Allerdings ging es dabei auch nicht um Traumavererbung. Das sind Fragen, die ich mir jetzt stelle.

Soweit ich das beurteilen kann, besteht auch ein Problem darin, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihren jüdischen Bürgern gerne eine bestimmte Identität zuweist, die sehr stark auf eine Opferhaltung hinausläuft. Juden und Jüdinnen, die Wut empfinden oder die sich für ihre Identität nicht interessieren, sind eigentlich nicht vorgesehen.

LP: Ich habe mich auch für diese Installation im Stück interviewen lassen. Und da habe ich dann gesucht und gekramt auf der Suche nach irgendetwas Jüdischem, das meine jüdische Identität ausmacht. Da ist aber nichts. Und ich finde es auch okay so! Ich habe mich nicht intensiver mit dem Holocaust auseinandergesetzt als andere Menschen. Ich bin da nicht tiefer reingegangen, weil das mein Volk betrifft oder so. Es ist irgendwie mein Volk. Ich habe jüdisches Blut. Ich bin auch stolz darauf, jüdisches Blut zu haben. Aber mehr ist es halt nicht. Mich interessiert mehr die Traumavererbung an sich als das Judentum selbst.

DS: Aber dann sehe ich bei dir doch fünf oder sechs Bücher im Bücherregal stehen. Und dann hast du doch ein paar jüdische Schriftzeichen auf dem Arm. Und die Kippa deines Vaters. Und dann denke ich mir, so wenig ist doch nicht da.

LP: … und Bilder von der Klage-Mauer an der Wand. Und eine Kette mit dem Davidsstern. Und den Leuchter…

choices / DS: Menora!

LP: Ich hab‘ ihn zuhause stehen, aber ich weiß nicht mal, wie er heißt. Daniel setzt sich seit Jahrzehnten mit der Nazigeschichte und dem Holocaust auseinander. Und ich fange jetzt erst an. Auf meine Art. Also ich glaube nicht, dass ich mir jetzt stundenlang Hitler-Dokus angucke. Das macht er. (lacht schallend)

DS: Dass es in Deutschland die Shoah und den Holocaust gegeben hat, dem können wir nicht entkommen. Meine Mutter war keine Jüdin, hat aber trotzdem immer den Davidstern an einer Kette um den Hals getragen. Ich frage mich warum? Vermutlich aus einem Solidaritätsempfinden. Ich heiße Daniel und das bezieht sich wohl auf das Buch „Exodus“ von Leon Uris, das meine Mutter gelesen hat. Mit sechs Jahren habe ich meine erste Doku über den Holocaust gesehen, in dem auch Massenerschießung gezeigt wurden. Ich bin im Prinzip immer dahin getrimmt worden, ein guter Antifaschist zu sein. Und ich frage mich auch, warum werde ich das Thema nicht los? Umgekehrt aber führt das zu vielen spannenden Fragen in der Produktion, denen auch ich mich stellen muss: Was projiziere ich beispielsweise in Lara hinein, wogegen sie sich dann mit einem dezidierten „Nein!“ wehrt. Inzwischen bleiben wir einfach bei der Suchperspektive im Stück, die sich verbindet mit Fragen wie: Wer bin ich? Was macht mich aus? Wer will ich sein? Und was wird mir zugeschrieben? Ziel wäre, dass das Publikum am Ende feststellt, es geht gar nicht nur um das Judentum, sondern auch um unsere eigenen Identitätsfragen. Dann merken wir vielleicht, dass wir den Bullshit, der den Rassismus ausmacht, gar nicht brauchen.

Mein Vater war König David | 7. - 10.9. | Orangerie Theater | 0221 952 27 08

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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